Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
er Ordnung in dieses innere Chaos bringen musste, sonst würde er den Verstand verlieren. Zum hundertsten Mal fragte er sich, ob er die nächtliche Begegnung mit Luise nur geträumt hatte oder ob sie tatsächlich neben ihm im Bett gelegen hatte. Ein bitterer Schauer durchfloss ihn, wenn er an ihre Hände auf seinem Körper dachte und an die geflüsterten Drohungen an seinem Ohr. Wenn er an Johanna dachte, empfand er nichts dergleichen. Nur dieses tröstliche Gefühl, das sie ihm durch ihre freundliche, selbstverständliche Anwesenheit im Krankenhaus gegeben hatte. Er hatte Sehnsucht nach Johanna. Vielleicht fühlt sich so Verliebtheit an, dachte Julius. Doch der Gedanke an Luise löste einen Krampf aus, der ihm die Kehle zuschnürte. Sein Innerstes war wie ein immer wieder aufloderndes Stück Holz in der Glut einer Begierde, die er noch nie zuvor empfunden hatte. Er kannte diese bittere, wilde Lust nach Frauen, die ihn unerreichbar von den schwülstigen Postkarten zwielichtiger Fotografen anlächelten. Luise jedoch würde ihn verzehren. Und Julius wurde von dem drängenden Wunsch gepeinigt, sie wiederzusehen. Wenn ihn jemand gefragt hätte, nach welcher der beiden Frauen, die ihn so verwirrten, er sich am meisten verzehrte, er hätte sich für Luise entschieden. Und das Wissen, dass diese Wahl falsch war, falsch sein musste, verursachte ihm körperliche Schmerzen.
In diesem Moment ging die Eingangstür des Café Westend auf, und Lischka betrat, eingehüllt in eine Schneewolke, den Raum. Vor den Fenstern begann es zu dämmern, und ein heftiger Wind trieb neuen Schnee durch die Straßen.
Julius hob den Arm und winkte Lischka zu. Im selben Augenblick erkannte er, dass der Inspektor etwas Schlimmes erfahren haben musste. Er war unrasiert, und sein Gesicht erinnerte ihn an eine Figur, die Kinder mit Kreide auf den feuchten Gehweg malten. Sein Blick loderte unheilvoll.
Er schwieg lange, nachdem er sich gesetzt hatte, und starrte Julius nur an. Ein Ober fragte Lischka nach dessen Wünschen, doch der Inspektor antwortete nicht.
„Einen Punschkrapfen und Kaffee“, sagte Julius und fügte noch hinzu: „Und zwei Trebern.“
„Sehr wohl, der Herr“, sagte der Ober und verließ ihren Tisch mit einem fragenden Blick auf Lischka.
„Was haben Sie?“, wollte Julius wissen.
„Was sagt Ihnen das, Pawalet?“, fragte Lischka. Seine Stimme klang hohl. „Ein Mann und eine Frau liegen auf der Seite auf einem Bett. Der Mann ist nackt bis auf ein braunes Tuch um die Hüften. Die Frau trägt ein weißes Nachthemd mit einem rosa Hausmantel aus Seide …“
Schon bei diesen ersten Worten wusste Julius, was Lischka meinte. Es war ein weiterer Mord geschehen. Das Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. Diese Gabe war also durch die Gehirnerschütterung nicht zerstört worden.
„… Sie ist blond und üppig. Der Mann ist sehr muskulös. Er hat einen Bart …“, fuhr Lischka fort.
„Und ursprünglich wahrscheinlich längere Haare, nicht wahr?“, fragte Julius mit klopfendem Herzen. Der Inspektor starrte ihn an und nickte langsam.
„War die linke Brust der Frau entblößt?“, fragte Julius weiter.
Lischka nickte wieder und schloss die Augen, als übermannte ihn die Müdigkeit.
„Und neben dem Bett der beiden lagen die Haare des Mannes. Abgeschnitten mit einer Schere. Gab es auch einen toten Schoßhund?“
Jetzt riss Lischka die Augen wieder auf. „Pawalet, Sie … Sie sind …“, flüsterte er. „Woher wissen Sie das alles?“
„Ich kenne das Bild“, flüsterte Julius. „Antonius van Dyck hat es gemalt. Es heißt Samson und Dalila . Aber ich hätte nie gedacht, dass …“
„Dass der Mörder es als Vorlage benutzen würde?“ Fassungslos schüttelte der Inspektor den Kopf. „Sie hatten recht, Pawalet. Er kann theoretisch jedes Bild benutzen.“
„Solange es eines ist, das im Kunsthistorischen Museum hängt.“
Der Ober brachte die Bestellung. Lischka kippte beide Gläser mit dem Tresterbrand hinunter und ließ den Kaffee stehen.
„Wie ist es passiert?“, fragte Julius.
Lischka rieb sich die schwarzen Bartstoppeln.
„Die beiden waren ein Paar und sind in Varieté-Vorstellungen im Prater aufgetreten. Sie als Sängerin, er als Muskelmann. Er war wohl eine Attraktion dort, weil er hüftlange Haare hatte. Sie hatten eine gemeinsame Wohnung am Praterstern. Der Besitzer des Varietés wurde unruhig, als die beiden gestern Abend nicht zur Vorstellung gekommen sind. Man fand sie in ihrer Wohnung.“
„Und
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