Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
könnte. Aber es wuchert auf einem durch und durch verrotteten Körper.“
Julius nickte.
Am Ende dieses Abends hakte er Lischka unter und brachte ihn zu sich nach Hause. Er ließ ihn auf das Kanapee sinken und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Dann legte er sich selbst zu Bett, wo er in einen tiefen, wohltuenden Schlaf fiel. Weder ihm noch Lischka war der Mann aufgefallen, der im Schatten des Hauseingangs gestanden und sie beobachtet hatte. Ganz nah war er ihnen gewesen. Nur einen Schritt zur Seite und Julius wäre gegen den dunklen Körper geprallt, der dort in der Finsternis stand. Doch der Mann hatte sich derart vereinigt mit der tiefsten Nachtstunde, dass er nicht mehr auffiel als ein liegengelassener Mantel im Straßenschmutz.
***
Am nächsten Morgen schien Lischkas Kater wie von Zauberhand verschwunden zu sein, nachdem Julius ihm seine Entdeckung gezeigt hatte. Minutenlang starrte er das Porträt des ersten Mordopfers an und murmelte: „Maler … natürlich, der Mörder ist ein Maler.“
„Jetzt hast du diesem Leutnant Tscherba gegenüber einen ziemlichen Vorsprung“, sagte Julius und hoffte, dass diese Aussicht die Schatten auf Lischkas Gesicht vertreiben würde.
Doch sein Freund sah ihn nur tadelnd an und sagte: „Das wird ja wohl nicht mein Hauptanliegen sein! Es geht darum, dass wir diesem Mann endlich auf die Spur kommen, und nicht um meine kleinen Machtkämpfe mit diesem Leutnant.“
Doch dann sagte er nachdenklich, „Ich habe mich gestern Abend anders angehört, nicht? Aber vielleicht hast du recht. Soll ich diese neue Erkenntnis wirklich ans Sicherheitsamt weiterleiten? Ich glaube nicht. Ich glaube viel eher, dass ich mir meine Arbeit zurückholen werde.“
„Wir müssen herausfinden, ob die anderen Opfer auch einen Auftrag für ein Bild an einen Maler gegeben haben“, überlegte Julius. „Wenn das stimmt, brauchen wir nur noch seinen Namen.“
Lischka schüttelte den Kopf. „Mach nie den Fehler, zu glauben, dass es einfach wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Täter, der so perfide mordet, eine so offensichtliche Spur zu sich selbst legt. Ich denke, dass er Vorkehrungen getroffen hat, um uns weiter in die Irre zu führen.“
„Und wie willst du das herausfinden?“, fragte Julius. „Man hat dich doch abgezogen von dem Fall.“
„Dazu brauchen wir keinen Segen vom Sicherheitsamt!“, verkündete er. Er zog seine Schuhe an und fuhr sich durch das zerzauste Haar.
„Aber vielleicht solltest du dich mal rasieren“, sagte Julius. „Mit diesem Bart merkt jeder, dass du kein ordentliches Mitglied der k. und k. Polizei mehr bist!“
Er lieh Rudolph sein Rasierzeug, kochte einen Kaffee, danach machten sie sich auf den Weg zum Spittelberg, in die Wohnung des zweiten Mordopfers, der mit 15 Pfeilen durchbohrten männlichen Leiche.
Die Gegend war ärmlich. In dem fast knietiefen Schnee war ein schmaler Graben freigeschaufelt worden, durch den man ging wie durch einen vereisten Korridor.
„Der zweite Tote, Ludwig Kraisler, war Besitzer einer kleinen Metzgerei“, erklärte Rudolph. „Er dürfte auf jeden Fall das Geld gehabt haben, ein Gemälde in Auftrag zu geben. Wer weiß, vielleicht verlangt unser Mann für so ein Bild auch gar nicht den üblichen Preis. Vielleicht macht er es seinen Opfern schmackhaft, indem er nur einen sehr geringen Betrag von ihnen verlangt.“
Julius trug das Bild bei sich, eingeschlagen in ein weißes Tuch. Unter seinen Schuhen ertönte ein wattiges Knirschen, und in der Luft lag der scharfe Geruch des Schnees. Niemand war zu sehen. Es war, als sei zumindest dieser Teil Wiens eingefroren.
Sie blieben vor einem Geschäft stehen, dessen Fensterscheiben unten halb vom Schnee verweht waren. Drinnen empfing sie warmer Blutdunst. Hinter einem gewaltigen Tresen stand ein junger Mann, der gerade Koteletts zerlegte.
„Inspektor Lischka, Sicherheitsamt“, begrüßte ihn Rudolph. „Ich habe den Mord an Herrn Kraisler, dem Besitzer, untersucht. Sagen Sie, besteht die Möglichkeit, den Schlüssel von Herrn Kraislers Wohnung zu bekommen?“
Der Mann hinter der Theke wischte sich die Hände an einem Lappen ab.
„Da müssen Sie seine Vermieterin fragen. Wenn Sie noch eine Viertelstunde warten, dann kommt sie. Sie holt sich ihren Braten für Weihnachten ab.“
„Weihnachten?“, murmelte Lischka, „Ach, das ist ja schon bald.“
„In einer Woche“, sagte Julius leise.
Sie setzten sich auf die kalte Fensterbank und sahen in Ermangelung anderer
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