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Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
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Sonne. Er dachte an Johanna und an die Lücke, die er in seinem Leben fühlte, seit er das Krankenhaus verlassen hatte. Ich werde sie zu einem Feiertagsspaziergang einladen, dachte er. Nach Weihnachten werde ich sie ausführen, ganz bestimmt.
    Der Fiaker hatte vor einem Säulenportal gehalten, das tief verschneit dalag. Die Freitreppe hoch zur Eingangstür war vollkommen von Schnee bedeckt. In diesen Mauern wurden keine Besucher erwartet.
    Was sie im Haus der russischen Diplomatenfamilie erwartete, senkte einen düsteren Schatten über die erwartungsvolle Stimmung dieses Tages. Sie wurden durch eine Halle geführt, in der sämtliche Spiegel mit schwarzen Tüchern verhängt waren. Die Dienstboten liefen umher wie unerwünschte, streunende Hunde, mit gesenktem Kopf und blassem Gesicht. Die Trauer in diesem Haus war wie eine unhörbare Melodie, die die Gemüter aller mit der Wucht einer Kirchenorgel ergriff. Ein stummer Haushofmeister brachte sie in einen Salon und raunte ihnen vor der Tür zu: „Die Herrin hat dieses Zimmer nicht mehr verlassen, seit sie aus Russland zurückgekehrt ist.“ Dann drückte er die Klinke herunter und öffnete die Tür. Julius und Lischka wichen zurück. Aus dem Salon drang der Gestank nach einem schon lange nicht mehr gelüfteten Zimmer, vermischt mit dem Rauch Dutzender Kerzen. Und nach einem Menschen, der sich schon lange nicht mehr gewaschen hatte.
    „Niemand kann sie dazu bewegen, herauszukommen“, raunte der Haushofmeister ihnen zu. Sein Tonfall war entschuldigend und abweisend zugleich. „Bitte machen Sie es kurz.“
    Zögernd betraten sie den Raum. In dem Salon befand sich das pulsierende Herz der Trauer, die sich über das ganze Haus gelegt hatte. Emilia Juristoff saß auf dem Boden vor einem Marmorkamin. Das Bild war gegen den Kamin gelehnt, und Julius erkannte augenblicklich die gleiche plakative, gefällige Wirkung, die ihm auch schon auf den Bildern von Ludwig Kraisler und Liselotte Kromichl aufgefallen war. Die Augen der Kinder waren wie Knöpfe aus Glas, so als hätte der Maler von Anfang an den Tod darin gesehen. Die verlassene Mutter hatte zahllose Kerzen um sich herum aufgestellt. Die Fenster waren ebenfalls verhängt, und die Luft in dem Zimmer war so stickig, als gäbe es keinen Sauerstoff mehr darin. Er fragte sich, warum die Kerzen immer noch flackerten.
    Vom Kamin her war ein schwaches Wimmern zu hören. Emilia Juristoffs Hände strichen immer wieder über das Bild, über die erstarrten Köpfe ihrer toten Kinder. Lischka fasste Julius am Ellenbogen und bedeutete ihm, leise zu sein. Dann flüsterte er: „Frau Juristoff?“
    Die Frau regte sich nicht. Sie trug ein graues Reisekleid und einen pelzbesetzten Mantel. Beides hatte sie wohl an, seit sie schreiend aus der Kutsche gestiegen war, um sich über ihre toten Kinder zu werfen. Um sie herum war die Zeit stehengeblieben. Lischka näherte sich ihr seitlich, und Julius schlich hinterher, ängstlich und zögernd, als könnte in der Nähe der Mutter etwas Schreckliches auf ihn warten. Sein Leben war ohne Bindungen verlaufen. Doch in diesem Moment wurde Julius die gewaltige Wucht der Traurigkeit bewusst, die man empfindet, wenn man einen Menschen verliert.
    Der Gestank im Salon nahm ihm den Atem. Emilia Juristoff strömte diesen Brodem nach Selbstzerstörung aus, den Geruch des Todes. Die Haare hingen ihr strähnig und wirr in das eisgraue Gesicht, dessen Profil im flackernden Kerzenschein aussah wie eine starre Maske.
    „Bringen Sie mir meine Kleinen zurück?“, fragte sie unvermittelt, ohne Lischka anzusehen.
    „Nein, leider nicht“, antwortete Lischka. „Aber ich will Ihnen helfen, dass der Mann, der sie Ihnen genommen hat, gefunden und bestraft wird.“
    „Bringt er mir dann meine Kleinen zurück?“, fragte sie, und Julius erschrak.
    „Frau Juristoff, wer ist der Mann, der dieses Bild gemalt hat?“, fragte Lischka leise drängend.
    „Oh, es ist ein schönes Bild, nicht wahr?“, murmelte die Frau. „Es ist alles, was ich noch habe.“
    „Wer war der Maler?“
    „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht mehr.“
    Julius atmete tief ein. „Der Mann, der dieses Bild gemalt hat, ist der Mörder Ihrer Kinder“, sagte er.
    Lischka starrte ihn fassungslos an und blickte dann hektisch zu Emilia Juristoff.
    „Was sagen Sie da?“, hauchte sie.
    „Wir müssen wissen, wer der Mann war, der dieses Familienbild gemalt hat“, wiederholte der Inspektor.
    In diesem Moment schien es, als bräche der starre

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