Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Panzer der Trauer auf. Langsam glitt Emilia Juristoffs Kopf an dem Bild abwärts, sie löste ihre starren Finger von der Leinwand und sank in sich zusammen wie eine leblose Puppe. Eine Haarsträhne geriet in die Kerzenflammen, als sie sich auf dem Boden zusammenkrümmte. Dann fing sie an zu schreien. Augenblicklich flog die Tür auf, und der Haushofmeister stürmte herein. Julius sprang vor, um das brennende Haar der Frau mit den Händen auszuschlagen. Doch sie riss den Kopf hoch und schrie mit weit geöffnetem Mund und panisch aufgerissenen Augen. In ihrem Gesicht erschien aber auch ein Ausdruck von Erstaunen, als hätte sie nie gedacht, dass es noch etwas geben könnte, was ihre Trauer übertraf. Der Diener nahm eine Decke und warf sie rasch über seine Herrin, um die Flammen zu ersticken. Julius stand schaudernd da, und Lischka zog ihn hinaus in die Eingangshalle.
„Warum hast du das getan? Warum hast du es ihr gesagt?“, zischte er ihn mit unterdrückter Wut an.
„Stell dir nur vor, dass sie bis ans Ende ihres Lebens vor einem Bild trauert, das der Mörder ihrer Kinder gemalt hat.“
Lischka nickte nachdenklich. „Ja, vielleicht hast du recht. Ich werde den Haushofmeister nach dem Maler fragen. Irgendjemand muss den Mann bezahlt haben. In diesem Haus muss jemand seinen Namen kennen.“
Kurze Zeit später erschien ein Arzt, und sie sahen, wie die bewusstlose Emilia Juristoff aus dem Zimmer getragen wurde. Es war, als lichte sich die Spinnwebe der Trauer für einen Moment. Nach einer halben Stunde hatte der Haushofmeister eine Rechnung gefunden, die der Maler des Familienporträts vor einem halben Jahr gestellt hatte. Auf dem Papier stand ein Name.
Alois Lanz.
Doch im selben Augenblick wusste Julius, dass dieser Name gestaltlos bleiben würde.
V
Die Wut umtoste seinen Kopf wie ein Schwarm kreischender Raben, die mit dem Schnabel auf ihn einhackten. Er lief mit harten Schritten im Zimmer umher und schlug mit der Faust immer wieder gegen die Wände. Er wusste nicht, wie er dieser peinigenden Wut entkommen sollte.
Sie waren ihm auf der Spur.
Aber nicht die Polizei, sondern diese magere Vogelscheuche. Er kannte ihn. Der Mann arbeitete als Saaldiener im Kunsthistorischen Museum. Und er war in die Wohnung seiner ersten Muse gezogen. In die Wohnung, zu der der Maler noch ein paarmal zurückgekehrt war, um zu sehen, ob jemand Neues eingezogen war.
Zu wissen, dass unter den Fußbodenbrettern das Bild von Lieselotte Kromichl lag, das hatte ihn gereizt. Dass irgendein ahnungsloser Wiener, der angesichts der Schlagzeilen über seine Taten erzitterte, nicht wusste, dass seine Schritte über etwas gingen, das der meistgesuchte Mörder der Stadt zurückgelassen hatte.
Der Gedanke, dass jemand dort lebte, wo er seine Spuren hinterlassen hatte, hatte ein erregtes Prickeln in ihm ausgelöst.
Das Gleiche galt für die Wohnung des Metzgermeisters. In jener Nacht, als er den heiligen Sebastian hingerichtet hatte, war er in die Wohnung zurückgekehrt. Schnell fand er auch hier eine lose Bodendiele, unter die er das Bild schob. Wie leicht war es doch gewesen, noch einmal in Kraislers Wohnung zu gelangen. Er hatte bei Kraisler geklingelt, um diesem zu sagen, dass er ihm zu viel für das Bild berechnet hatte, und um ihm einen Teil des Geldes zurückzugeben. Doch anstatt ihm das Geld zu geben, hatte er den eitlen Ludwig Kraisler mit einem äthergetränkten Tuch überrascht. In Spittelberg war es nicht weiter aufgefallen, dass der Maler eine Woche später nachgesehen hatte, ob schon ein Nachmieter für die Wohnung gefunden worden war.
Am Haus von Liselotte Kromichl hatte schon bald ein neuer Name am Klingelschild gestanden.
Julius Pawalet.
Ausgerechnet ein Mann, der auf die Originale im Kunsthistorischen Museum aufpasste. Dieser Zufall hatte in dem Maler ein irres, haltloses Lachen ausgelöst. Wie kurios, dass ausgerechnet ein rechtschaffener Kunst-Wachhund in die Wohnung gezogen war!
Doch der Maler konnte sich über diesen Witz nicht sehr lange belustigen.
Die Neugierde über diesen Julius Pawalet hatte ihn auch an diesem Morgen in die Lindengasse geführt, gerade in dem Moment, als der Saaldiener zusammen mit einem anderen Mann das Haus verließ. Und unter dem Arm von Pawalet hatte er es gesehen. Viereckig. Eingeschlagen in weißes Tuch. Genau so groß wie sein Bild.
Dann hatte dieser verdammte Schnüffler es also gefunden. Einfach so.
Die Wut nahm ihm fast den Atem. Da suchte das ganze Wiener Sicherheitsamt nach
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