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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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folgt stets ihrer Vorhut, und unter den jungen Frauen an dieser Universität waren das Janies Wilde Mädchen, die Wegbereiterinnen einer ganz und gar spontanen sexuellen Umwälzung. Zwanzig Jahre zuvor, während meiner eigenen Studienzeit, waren die Universitäten perfekt regiert worden. Es gab strikte Regeln über den Umgang der Geschlechter miteinander. Es gab eine wider spruchslos hingenommene Überwachung. Die Autorität residierte an einem entrückten, kafkaesken Ort - in »der Verwaltung« -, und die Sprache, deren sie sich bediente, hätte die des heiligen Augustinus sein können. Man versuchte, sich dieser fortwährenden Kontrolle mit List zu entziehen, doch bis 1964 waren im großen und ganzen alle, die dieser Kontrolle unterlagen, gesetzestreue Menschen, hochangesehene Mitglieder jener Schicht, die Hawthorne als die Klasse bezeichnet hatte, »die Grenzen liebt«. Dann kam die lange hinausgezögerte Explosion, der anrüchige Angriff gegen die Nachkriegsnormalität und den kulturellen Konsens. All das, was nicht zu bändigen war, brach sich Bahn, und die unumkehrbare Verwandlung der Jugend hatte begonnen.
     
Carolyn erreichte nie Janies Berühmtheit, und das wollte sie auch gar nicht.
    Sie beteiligte sich an den Protesten, den Provokationen, den aufsässigen Spaßen, vermied es aber mit charakteristischer Selbstdisziplin, den Ungehorsam so weit zu treiben, daß er ihre Zukunft hätte gefährden können. Carolyn, wie sie jetzt ist, in mittleren Jahren - ganz und gar hingegeben an die Welt der Wirtschaft, widerspruchslos konventionell - , überrascht mich nicht. Es war nie ihre Berufung, für die Sache der sexuellen Freizügigkeit Anstoß zu erregen. Auch grundsätzliche Zügellosigkeit entspricht nicht ihrem Naturell. Janie dagegen... Lassen Sie mich ein wenig zu Janie abschweifen, die auf ihre bescheidene Art Consuela Castillos Simon Bolivar war. Ja, sie war eine große revolutionäre Führerin, ganz wie der Südamerikaner Bolivar, dessen Armeen die Kolonialmacht Spanien besiegten - eine Aufrührerin, die sich nicht fürchtete, gegen überlegene Kräfte anzukämpfen, eine libertadora, die sich gegen die herrschende Moral an der Universität wandte und ihren Machtanspruch schließlich hinwegfegte.
    Der freizügige Umgang mit Sexualität, den meine jungen Studentinnen aus gutem Hause heute an den Tag legen, ist ihrer Meinung nach durch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gedeckt - ein Anspruch, den zu erheben wenig bis gar keinen Mut erfordert und der im Einklang mit dem 1776 in Philadelphia schriftlich fixierten Anspruch auf das Streben nach Glück steht. In Wirklichkeit aber ist die Ungezwungenheit, die diese Consuelas und Mirandas so nonchalant als selbstverständlich betrachten, sowohl der Kühnheit jener schamlosen, subversiven Janie Wyatts als auch dem erstaunlichen Sieg zu verdanken, den sie in den sechziger Jahren durch ihr unerhörtes Benehmen errangen. Die vulgäre Dimension des amerikanischen Lebens, die bis dahin nur in Gangsterfilmen vorkam - das war es, was von Janie auf dem Campus eingeführt wurde, denn das war die Intensität, die nötig war, um die Verteidiger der Normen zu Fall zu bringen. So mußte man die Aufseher bekämpfen: indem man sich nicht ihrer, sondern der eigenen schmutzigen Sprache bediente.
    Janie war in der Stadt geboren und im Vorort aufgewachsen, in Manhasset, draußen auf Long Island. Ihre Mutter war Lehrerin und pendelte täglich nach Queens, von wo die Familie nach Manhasset gezogen war und wo sie noch immer eine zehnte Klasse unterrichtete. Ihr Vater fuhr ein paar Kilometer in die andere Richtung, nach Great Neck, wo er Teilhaber in der Kanzlei von Carolyns Vater war. So lernten die beiden Mädchen sich kennen. Das leere Vororthaus - es reizt jeden sexuellen Nerv in Janies Körper. Als sie die sexuelle Reife erreicht, verändert sich die Musik, und so dreht sie sie auf. Sie dreht alles auf. Janies Cleverness bestand darin, daß sie, als sie in den Vorort kam, erkannte, wozu die Vororte da waren. In der Stadt war sie als Mädchen nie frei gewesen, hatte sie sich nie so frei bewegen können wie die Jungen. Doch draußen in Manhasset entdeckte sie die Weite. Es gab Nachbarn, aber sie waren nicht so nah wie in der Stadt. Wenn sie von der Schule nach Hause kam, waren die Straßen leer. Es sah aus wie in einer der Städte des alten Wilden Westens. Niemand da. Alle fort. Bis die Leute mit den Pendlerzügen zurückkehrten, konnte sie also ein kleines Ding, eine kleine

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