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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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Dusche zum Trocknen aufgehängt ist.« Carolyn erzählte mir, daß Studenten, die Lust auf Sex hatten, die über das Universitätsgelände gingen und mit einemmal Lust auf Sex verspürten, sie einfach anriefen, und wenn sie ebenfalls Lust hatte, war alles klar. Sie waren vielleicht gerade irgendwohin unterwegs, hielten plötzlich inne, sagten: »Ich glaube, ich rufe mal Janie an« und ließen die nächste Seminarsitzung sausen. Viele Dozenten runzelten über diese sexuelle Freimütigkeit die Stirn und setzten sie mit Dummheit gleich. Selbst einige der Studenten bezeichneten Janie als Schlampe, gingen aber dennoch mit ihr ins Bett. Doch sie war weder dumm noch war sie eine Schlampe. Janie war eine Frau, die wußte, was sie tat. Sie baute sich, so klein sie war, vor einem auf - die Füße ein Stück auseinander und fest auf dem Boden, viele Sommersprossen, kurzes blondes Haar, kein Make-up bis auf den leuchtendroten Lippenstift -, und ihr breites, offenes Bekennergrinsen sagte: So bin ich, das mache ich, und wenn dir das nicht paßt, dann hast du eben Pech gehabt.
    Womit verblüffte Janie mich am meisten? Damals, als die Studentenrevolte gerade erst begann, gab es vieles, was sie als ein neues, bemerkenswertes Wesen aus der Menge heraushob. Seltsamerweise verblüffte sie mich mit etwas, das angesichts der Fortschritte, die Frauen in puncto Beherztheit seither gemacht haben, heute vielleicht gar nicht mehr so auffällig wäre und nicht unbedingt im Widerspruch zu der trotzigen Extravaganz ihrer öffentlichen Selbstdarstellung stand. Sie verblüffte mich am meisten, indem sie den schüchternsten Mann der ganzen Universität verführte: unseren Dichter. Solche Verbindungen zwischen Dozenten und Studenten sorgten für Aufregung, nicht nur, weil sie neu waren, sondern auch, weil sie nicht geheimgehalten wurden, und meine Ehe war nicht die einzige, die ihnen zum Opfer fiel. Der Dichter verfügte nicht über die Fähigkeiten, mit denen andere Menschen ihr Vorankommen in der Welt sichern. Sein Egoismus galt einzig und allein der Sprache. Er starb schließlich in relativ jungen Jahren am Alkohol, denn er, der im freundlichen Amerika ganz auf sich allein gestellt war, konnte nur durch Alkohol untergehen. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, und wenn er nicht hinter dem Pult stand und faszinierende Vorlesungen über Dichtung hielt, war er so schüchtern, wie man es nur sein kann. Daß es jemandem gelingen könnte, diesen Mann aus dem Schatten ins Licht zu locken, war für alle unvorstellbar. Nur für Janie nicht. Es geschah auf einer Party. Viele Studenten, männliche wie weibliche, wären dem Dichter gern nähergekommen. Die intelligenten Frauen waren allesamt verliebt in ihn, diesen romantischen Fremden aus dem Leben, doch er schien zu allen Distanz zu halten. Bis Janie auf der Party zu ihm ging, ihn an der Hand nahm und sagte: »Laß uns tanzen« - und schon hatte sie ihn abgeschleppt. Es war, als wäre es für ihn ganz natürlich, ihr zu vertrauen. Die kleine Janie Wyatt: Wir sind alle gleich, wir sind alle frei, wir können jeden Mann kriegen, den wir wollen.
    Janie und Carolyn und drei oder vier andere aufmüpfige Studentinnen aus Familien der oberen Mittelschicht bildeten eine Clique, die sich die »Wilden Mädchen« nannte. Etwas wie sie hatte ich bis dahin noch nicht erlebt, und damit meine ich nicht, daß sie Zigeunerkleider trugen und barfuß gingen. Sie verabscheuten Unschuld. Sie fanden es unerträglich, beaufsichtigt zu werden. Sie hatten keine Angst aufzufallen, und sie hatten ebensowenig Angst vor Heimlichkeiten. Das Wichtigste war, daß man gegen die Verhältnisse rebellierte, in denen man sich befand. Gut möglich, daß sie und ihre Gefolgschaft zu der ersten Welle amerikanischer Frauen gehörten, die ganz und gar ihrem eigenen Begehren folgten. Keine Rhetorik, keine Ideologie, nur das Spielfeld der Lust, das sich den Mutigen darbietet. Der Mut wuchs, als ihnen bewußt wurde, welche Möglichkeiten sich ihnen boten, als ihnen bewußt wurde, daß sie nicht mehr beaufsichtigt wurden, daß sie nicht mehr dem alten System oder überhaupt irgendeinem System dienen mußten - als ihnen bewußt wurde, daß sie alles tun konnten.
     
    Anfangs war die Revolution der sechziger Jahre eine improvisierte Revolution; ihre Avantgarde an der Universität war winzig - ein halbes, vielleicht eineinhalb Prozent -, aber das machte nichts, denn der sympathetisch mitschwingende Teil der Bevölkerung folgte ihr bald. Die Kultur

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