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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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denken: Das ist es, das ist das beschränkte Leben, das du führst?
    Wenn ich meinen Weg fand, dann nicht, weil ich im Wald geboren und von wilden Tieren aufgezogen worden wäre, so daß ich die Freiheit von Natur aus besessen hätte. Ich hatte dieses Wissen nicht von Geburt an. Auch mir fehlte die Souveränität, offen zu tun, was ich tun wollte. Der Mann, der Ihnen gegenübersitzt, ist nicht derselbe, der 1956 in den Stand der Ehe trat. Wer eine selbstbewußte Vorstellung vom Rahmen seiner Autonomie bekommen wollte, brauchte eine Anleitung, wie sie damals nirgends zu finden war, jedenfalls nicht in meiner kleinen Welt, und das war der Grund, warum es 1956 selbst mir ganz natürlich erschien, zu heiraten und ein Kind in die Welt zu setzen.
    Als ich heranwuchs, besaß man als Mann im Reich des Sex keine Bürgerrechte. Man war ein Fassadenkletterer. Man war ein Dieb im Reich des Sex. Man grapschte. Man stahl sich Sex. Man überredete, man bettelte, man schmeichelte, man beharrte - alles, was mit Sex zu tun hatte, mußte gegen die Werte, wenn nicht gar den Willen des Mädchens erkämpft werden. Die Regeln besagten, daß man ihr seinen Willen aufzuzwingen hatte. Auf diese Weise, hatte man ihr beigebracht, könne sie den Anschein der Tugend wahren. Es hätte mich verwirrt, wenn ein ganz normales Mädchen diese Regel freiwillig und ohne endloses Drängen gebrochen und in einen sexuellen Akt eingewilligt hätte. Niemand, ganz gleich welchen Geschlechts, hatte nämlich das Gefühl, ein angestammtes Recht auf Erotik zu haben. Dergleichen war unbekannt. Wenn sie sich verknallt hatte, war sie unter Umständen bereit, es einem mit der Hand zu besorgen - was im Grunde bedeutete, daß man das selbst erledigte und dabei ihre Hand führte -, aber daß ein Mädchen sich ohne das Ritual psychologischer Belagerung und unablässiger, monomanischer Hartnäckigkeit und Beschwörung auf irgend etwas einließ, war schlicht undenkbar. Auf jeden Fall erforderte es eine geradezu übermenschliche Beharrlichkeit, einen geblasen zu bekommen. In vier Jahren College gelang mir das nur einmal. Das war alles, was einem zugestanden wurde. In dem Provinzstädtchen in den Catskill Mountains, wo meine Eltern ein kleines Urlaubshotel hatten und ich in den vierziger Jahren aufwuchs, gab es einvernehmlichen Sex nur mit einer Prostituierten oder mit einem Mädchen, mit dem man schon jahrelang befreundet war und von dem jeder annahm, daß man es eines Tages heiraten werde. Und das hatte seinen Preis, denn oft genug heiratete man dieses Mädchen dann tatsächlich.
    Meine Eltern? Sie waren eben Eltern. Ich habe eine empfindsame Erziehung genossen, das können Sie mir glauben. Als mein Vater auf Drängen meiner Mutter endlich das obligatorische Gespräch über Sex mit mir führte, war ich bereits sechzehn. Es war 1946, und es empörte mich, daß er, dieser sanfte Mensch, der 1898 in einer Mietskaserne in der Lower East Side geboren war, nicht wußte, was er mir sagen sollte. Im Grunde war es nichts anderes als das, was die gütigen jüdischen Väter jener Generation zu sagen hatten: »Du bist unser Schatz, du bist unser Engel, du kannst dir dein ganzes Leben ruinieren...« Natürlich konnte er nicht wissen, daß ich mir bei der Schlampe, die jeden ranließ, schon eine Geschlechtskrankheit geholt hatte. Soviel also zu den Eltern in jenen lange vergangenen Tagen.
    Sehen Sie, heterosexuelle Männer, die in den Stand der Ehe treten, sind wie Priester: Sie legen ein Keuschheitsgelübde ab, nur wird ihnen das anscheinend erst drei, vier, fünf Jahre später bewußt. Für einen potenten Heterosexuellen mit seinen sexuellen Präferenzen ist eine normale Ehe nicht weniger erdrückend als für einen Schwulen oder eine Lesbierin. Obwohl auch Schwule jetzt heiraten wollen. Kirchlich. Vor zwei-, dreihundert Zeugen. Aber warten Sie nur, bis sie sehen, was aus dem Begehren geworden ist, das sie dazu gebracht hat, schwul zu sein. Ich hatte von diesen Burschen eigentlich mehr erwartet, aber wie sich herausstellt, besitzen auch sie keinen Sinn für Realität. Allerdings hat es wahrscheinlich was mit Aids zu tun. Die Geschichte der Sexualität in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts trägt die Überschrift: »Niedergang und Aufstieg des Kondoms«. Das Kondom ist wieder da. Und mit ihm ist alles zurückgekehrt, was in den sechziger Jahren über Bord geworfen worden ist. Welcher Mann kann behaupten, daß ihm Sex mit Kondom soviel Spaß macht wie ohne? Was bringt ihm das

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