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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Roth
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auf der Jersey-Seite der Brücke an, wählte Consuelas Nummer und sagte ihr, ich hätte eine Panne und könne nicht kommen. Es war eine durchsichtige Lüge - ich hatte einen Porsche, der noch keine zwei Jahre alt war -, und so faxte sie mir noch in derselben Nacht vom Apparat ihrer Eltern einen Brief. Es war nicht der heftigste Brief, den ich je bekommen habe, aber dennoch - ich hatte mir bis dahin nicht vorstellen können, daß Consuela so außer sich geraten könnte.
    Doch ich hatte mir Consuela ohnehin nie vorstellen können. Was gab es außerdem, das ich, geblendet von meiner Obsession, nicht von ihr wußte? In ihrem Brief schrie sie mich an: »Du spielst immer den weisen alten Mann, der alles weiß.« Sie schrie: »Heute morgen noch habe ich Dich im Fernsehen gesehen. Du hast die Rolle des Mannes gespielt, der immer alles besser weiß, der weiß, was gute und was schlechte Kultur ist, der weiß, was die Leute lesen und was sie nicht lesen sollten, der alles über Musik und alles über Kunst weiß, und dann, wenn ich diesen wichtigen Augenblick in meinem Leben feiern will und eine Party gebe, wenn ich eine schöne Party veranstalten will, wenn ich Dich bei mir haben will, Dich, der mir alles bedeutet, dann bist Du nicht da.« Ich hatte ihr bereits ein Geschenk und Blumen geschickt, aber sie war so aufgebracht, so wütend...
    »Der arrogante intellektuelle Kritiker, die große Autorität für alles und jedes, der alle aufklärt und allen sagt, was sie denken sollen! Me da asco!«
    So beendete sie es. Nie zuvor, nicht einmal liebevoll oder zärtlich, hatte Consuela sich mir gegenüber spanisch ausgedrückt. Me da asco. Eine ganz gewöhnliche Redewendung: »Es ekelt mich an.«
Das alles ist sechseinhalb Jahre her.
    Das Seltsame war, daß ich drei Monate später eine Postkarte von ihr bekam, aus einem Luxushotel in irgendeinem Land der Dritten Welt - Belize, Honduras oder so -, und die war in einem überaus freundlichen Ton gehalten. Nach weiteren sechs Monaten rief mich Consuela an. Sie bewerbe sich um eine Stelle bei einer Werbeagentur, eine Stelle, mit der ich, wie sie sagte, bestimmt nicht einverstanden wäre, aber könne ich ihr trotzdem eine Empfehlung schreiben? Als ihr ehemaliger Professor? Ich schrieb die Empfehlung. Dann erhielt ich eine Postkarte (einen Modigliani-Akt aus dem Museum of Modern Art), auf der sie schrieb, sie habe die Stelle bekommen und sei sehr glücklich. Und dann nichts mehr. Eines Nachts entdeckte ich ihren Namen in einer neuen Ausgabe des Manhattaner Telefonbuchs; die Adresse war die einer Wohnung in der Upper East Side, die bestimmt ihr Vater für sie gekauft hatte. Aber es war keine gute Idee, alles noch einmal aufzuwärmen, und ich unternahm keinen Versuch in dieser Richtung.
    George hätte es auch nicht zugelassen. George O'Hearn war, obgleich fünfzehn Jahre jünger als ich, mein weltlicher Beichtvater. In den eineinhalb Jahren mit Consuela war er der Freund, der mir am nächsten stand, und er verriet mir erst später, wie beunruhigt er gewesen sei, wie besorgt er mich beobachtet habe, als ich meinen Realismus, meinen Pragmatismus, meinen Zynismus aufgegeben und nur noch daran gedacht hätte, ich könnte Consuela verlieren. Er war es, der mich daran hinderte, diese Postkarte zu beantworten, was ich lieber als alles andere getan hätte und was mir, wie ich glaubte, durch die zylindrisch-geschmeidige Taille, das ausladende Becken, die sanft geschwungenen Oberschenkel nahegelegt wurde, durch den Flammenfleck des Haars an der Stelle, wo sie sich gabelt, durch den typischen Modigliani-Akt, die zugängliche, hingestreckte Traumfrau, die er rituell malte und die Consuela so schamlos per Post geschickt hatte. Eine Nackte, deren volle, ein wenig zur Seite geneigten Brüste sehr wohl die ihren hätten sein können. Eine Nackte mit geschlossenen Augen, wie Consuela ausschließlich durch ihre erotische Kraft beschützt und, wie Consuela, elegant und elementar zugleich. Eine Nackte mit golden schimmernder Haut, unerklärlicherweise schlafend über einem samtig schwarzen Abgrund, den ich in meiner seelischen Verfassung mit einem Grab assoziierte. Da liegt sie, eine lange, geschwungene Linie, geduldig wartend, still wie der Tod.
    George hatte mir sogar davon abgeraten, die gewünschte Empfehlung zu schreiben. »Dieser Frau gegenüber wirst du immer machtlos sein. Du wirst nie derjenige sein, der das Sagen hat. Da ist etwas«, sagte George, »das dich verrückt macht, und es wird immer dasein.

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