Das sterbende Tier
Wenn du den Kontakt nicht ein für allemal abbrichst, wird dieses Etwas dich zerstören. Bei dieser Frau reagierst du nicht mehr auf ein natürliches Bedürfnis. Das ist Pathologie in Reinkultur. Paß auf«, sagte er, »betrachte es mal als Kritiker, betrachte es mal von einem professionellen Standpunkt aus. Du hast das Gebot der ästhetischen Distanz verletzt. Du hast bei dieser Frau die ästhetische Erfahrung sentimentalisiert - du hast sie personalisiert, du hast sie sentimentalisiert, und du hast das Gefühl des Getrenntseins verloren, das für den Genuß unerläßlich ist. Und weißt du, wann das geschehen ist? An dem Abend, als sie sich den Tampon rausgezogen hat. Die unerläßliche ästhetische Distanz wurde nicht aufgehoben, als du sie hast bluten sehen - das war gut, das war in Ordnung -, sondern als du nicht an dich halten konntest und auf die Knie gefallen bist. Was zum Teufel hat dich geritten? Was steckt hinter der Komödie um diese kubanische Frau, die einen Mann wie dich, den Professor der Begierde, auf die Matte zwingt, wo er ihr Blut trinkt? Damit hast du, würde ich sagen, deine unabhängige kritische Position aufgegeben, Dave. Bete mich an, sagt sie, bete das Mysterium der blutenden Göttin an - und du tust es. Du schreckst vor nichts zurück. Du leckst es auf. Du nimmst es zu dir. Du verdaust es. Sie dringt in dich ein. Was wäre als nächstes gekommen, David? Wie lange hätte es gedauert, bis du sie um ihren Kot angebettelt hättest? Ich bin nicht dagegen, weil es unhygienisch ist. Ich bin nicht dagegen, weil es ekelhaft ist. Ich bin dagegen, weil es Verliebtheit ist. Die einzige Obsession, die jeder will: ›Liebe‹. Die Leute denken, wenn sie sich verlieben, werden sie ganz? Die platonische Vereinigung der Seelen? Ich glaube, es ist anders. Ich glaube, daß man ganz ist, bevor alles anfängt. Und daß die Liebe einen zerbricht. Man ist ganz, und dann wird man in Stücke gebrochen. Sie war ein Fremdkörper, der in deine Ganzheit eingedrungen ist. Und eineinhalb Jahre lang hast du darum gekämpft, ihn zu integrieren. Aber du wirst nie wieder ganz sein, bevor du diesen Fremdkörper nicht abgestoßen hast. Entweder du stößt ihn ab oder du integrierst ihn durch Verrenkung. Das hast du versucht, und das war es, was dich verrückt gemacht hat.«
Dagegen ließ sich schwerlich etwas vorbringen, und nicht nur wegen Georges Neigung zum Mythologisieren; es war nur schwer zu glauben, daß ein scheinbar so harmloses Wesen wie die in ihre Familie eingebundene, behütete, vorstädtische Consuela ein derart gefährliches Potential barg. George ließ nicht locker. »Bindung ist verderblich, Bindung ist dein Feind. Joseph Conrad: Wer eine Bindung eingeht, ist verloren. Daß du hier sitzt und ein solches Gesicht machst, ist absurd. Du hast einen Eindruck davon bekommen. Reicht das nicht? Und wovon bekommst du schon jemals mehr als einen Eindruck? Das ist alles, was wir im Leben bekommen, das ist alles, was wir vom Leben bekommen. Einen Eindruck. Mehr gibt es nicht.«
George hatte natürlich recht und wiederholte nur, was ich ohnehin wußte. Wer eine Bindung eingeht, ist tatsächlieh verloren, Bindung ist tatsächlich mein Feind, und so griff ich auf das zurück, was Casanova als »die Zuflucht der Schuljungen« bezeichnet hat: ich masturbierte. Ich stellte mir vor, daß ich am Flügel saß, während sie nackt neben mir stand. Wir hatten dieses Tableau einmal inszeniert, und so war es ebensosehr Erinnerung wie Vorstellung. Ich hatte sie gebeten, sich auszuziehen, damit ich sie ansehen konnte, während ich Mozarts Sonate in c-Moll spielte, und sie hatte es getan. Ich weiß nicht, ob ich sie besser spielte als sonst, aber darum ging es ja gar nicht. In einer anderen immer wiederkehrenden Phantasie sage ich zu ihr: »Dies ist ein Metronom. Das kleine Licht blinkt, und man hört ein regelmäßiges Geräusch. Das ist alles. Man kann den Takt beliebig einstellen. Nicht nur Amateure wie ich, sondern auch Berufsmusiker, sogar berühmte Konzertpianisten, haben das Problem, daß sie beim Spielen immer schneller werden.« Ich stelle sie mir wieder vor, wie sie, die Kleider zu ihren Füßen, neben dem Flügel steht wie in jener Nacht, als ich, voll bekleidet, die c-Moll-Sonate spielte und ihrer Nacktheit mit dem langsamen Satz ein Ständchen brachte. (Manchmal besuchte sie mich im Traum und hieß dann, wie ein Spion, nur »KV 457«.) »Das ist ein elektronisches Metronom«, sage ich. »Es ist nicht dreieckig wie die
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