Das Sternenprogramm
indischen Cafe im ersten Stock, das
Ausblick bot auf die Menschenmenge, weit genug entfernt von den
Bars, die sich heute vor allem durch halsabschneiderische Preise
und betrunkene Neokommunisten auszeichnen würden.
Hühner-Roti und ein großes Glas Vanille-Lassi fand
Moh hier besonders gut. Er aß in einer Ecke, gegen das
Fenster gelehnt, während Janis Tikka knabberte und Jordan
eine Art Kartoffelkuchen mampfte und dabei in einer
Broschüre des Kosmodroms in Kasachstan aus der Zeit vor dem
Krieg blätterte.
»Bist du wirklich Kommunist, Moh?«, fragte er.
»Nach allem, was passiert ist?«
Moh brummte etwas, nach wie vor nach Bernstein Ausschau
haltend. »Die Vergangenheit ist nichts weiter als ein
Vorspiel«, sagte er. »Die Zukunft ist eine lange
Zeit. Wir haben noch nicht viel davon zu sehen
bekommen.«
»Wann werden wir genug gesehen haben?«, fragte
Janis gereizt. Moh vermutete zwei verschiedene Gründe hinter
ihrer schlechten Laune: einerseits passte es ihr nicht, hier
herumzuhängen, andererseits bekam sie Zweifel hinsichtlich
der Verbindungen mit der Vergangenheit, die ihr bislang so
einsichtig vorgekommen waren.
»Ich erinnere mich an gewisse Dinge«, sagte er,
nicht nur an sie, sondern auch an Jordan gewandt. »Ich habe
miterlebt, wie die Arbeiterklasse Geschichte geschrieben hat, und
das vergisst man nicht so leicht.« Die gescheiterte
Revolution nagte an ihm wie der Phantomschmerz eines verlorenen
Arms. »Was man vergessen sollte, das sind die Regime und
die Staaten, von denen diese Leute glauben, es wäre dort gar
nicht so schlimm gewesen. Aber darum geht es nicht.«
Jordan sagte: »Okay, aber so hat es nun mal
geendet…«, als Moh die Hand hob. Er hatte ein
batteriebetriebenes Fahrzeug erspäht, das einen kleinen,
überladenen Anhänger durchs Gewühl zog.
»Da ist er«, sagte Moh. »Hey«, setzte
er hinzu, als Janis und Jordan Anstalten machten, sich zu
erheben. »Immer mit der Ruhe. Lasst den Mann erst mal zu
Atem kommen.«
Er schlurfte geräuschvoll den Rest des Lassi und steckte
sich eine Zigarette an, um den Genuss komplett zu machen.
Bisweilen fragte sich Kohn, ob Bernstein vielleicht der wahre
Ewige Jude war. Er war nicht mehr jung, aber Kohn wollte verdammt
sein, wenn Bernstein überhaupt älter wurde. Als er
schiefzahnig lächelte, wirkte er noch genauso wie an jenem
Tag, als Moh zum ersten Mal ungeduldig neben seinem Vater
gestanden hatte, während dieser um ein paar Neuerwerbungen
schacherte (Lenin und das Ende der Politik, Lenin und die
Vorhut der Partei, Lenin als Wahlkampfmanager, Lenin als
Philosoph, Lenins Kindheit, Lenins Kampf gegen den Stalinismus,
Lenins politische Ansichten, Lenins Unterhosen…)
Bernstein klopfte Moh auf die Schulter und schüttelte
Janis und Jordan die Hand, während Moh sie vorstellte. Er
wechselte mit Jordan ein paar Worte über den
Untergrund-Buchhandel in Beulah-City, dann wandte er sich an
Moh.
»Dann sind Sie also trotz des Bombenalarms
durchgekommen«, sagte Moh.
»Bombenalarm?« Bernstein wirkte erstaunt.
»Ich habe bloß mitbekommen, dass die dämliche
königliche Polizei in Kentish Town groß
aufgeräumt hat. Musste einen weiten Umweg fahren. Hätte
nicht gern erklären müssen, warum ich diese ganzen
alten ZK-Protokolle dabeihabe.«
Protokolle des Zentralkomitees. Das klang aufschlussreich.
»Von wann?« Moh war bemüht, sich sein
Interesse nicht anmerken zu lassen.
Bernstein schüttelte den Kopf. »Aus der Zeit vor
dem Krieg. Spaltungsdokumente.«
Moh zog eine Schulter hoch.
»Worum geht’s dir diesmal, Moh?«
»Nicht um Geschichte«, antwortete Moh
gequält. »Um Politik.« Unwillkürlich warf
er einen Blick auf die ausgelegten Schriften. Er nahm ein
Pamphlet zur Hand, eine hübsche Ausgabe, die er noch nicht
hatte, mit mintgrünem Einband. Das Übergangsprogramm von Lew Trotzkij. Mit einem Vorwort
von Harry Wicks.
»Ein guter Mann«, meinte Bernstein. »Hab ihn
mal reden hören.«
»Sie haben Trotzkij gehört?«, fragte
Jordan.
Bernstein lächelte nachsichtig. »Ich spreche von
Harry Wicks«, sagte er.
»Wie viel?«, fragte Moh.
»Sechzig Millionen Pfund, egal in welcher
Währung.«
»Gut, ich nehm’s«, sagte Moh und zählte
zwanzig Mark ab. »Das ist wirklich ein Stück
Geschichte.« Auf derlei Schmeicheleien verstand er
sich.
»Aber deswegen bist du nicht gekommen«, bemerkte
Bernstein.
»Eigentlich nicht«, meinte Moh. »Was ich Sie
fragen wollte
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