Das Stockholm Oktavo
Allerheiligen 1792 war ich bei Margot zum Essen eingeladen –
canard à la prune
mit knusprigen Kartoffeln. Wir tranken fast eine ganze Flasche Weißwein und sprachen über Neuigkeiten aus Frankreich. Es war, als wäre die Schockwelle nach dem Attentat auf König Gustav mit einer solchen Wucht weiter nach Süden und somit nach Frankreich geschwappt, dass die gesellschaftliche Ordnung dort auf den Kopf gestellt wurde, während es in Schweden ruhig blieb. Man hörte unglaubliche und blutrünstige Geschichten von Theaterbesuchern, die auf dem Heimweg über Leichenteile stolperten; vom Septembermassaker; vom Königspaar, das in der Tour du Temple gefangen gehalten und gedemütigt wurde – wobei der junge Kronprinz angeblich dazu angehalten wurde, seine Eltern zu beschimpfen und seine Mutter eine Hure zu nennen; die wahnwitzigen Spottgesänge und -tänze der Carmagnole; das neue Gerät für effiziente Hinrichtungen: die Guillotine. König Ludwig würde der Prozess gemacht werden.
»Ich bin so froh, dass Sie hier und nicht in Paris sind«, sagte ich.
»Danke, Emil, auch ich bin froh, hier zu sein«, sagte Margot. »Ich habe Zeter und Mordio geschrien, als ich damals nach Stockholm gehen musste. Wenn ich schon nicht in Paris leben konnte, wollte ich gar nicht mehr leben. Aber was wusste ich da schon von der Liebe?«
»Liebe …«, wiederholte ich. Ich erzählte Margot von meiner Bewunderung für Christian und dass er in meinem Oktavo der Gewinn war: Er hatte mir das Wissen um die Göttliche Geometrie vermittelt und mir die Gelegenheit geschenkt, zu beobachten und zu begreifen, was künstlerisches Schaffen bedeutete. »Er hat mir gezeigt, was es heißt, das kleinste Detail zu lieben, und was es heißt, eine Frau zu lieben.«
Sie runzelte die Stirn und zog ihre süße Schnute. »Aber Sie haben die gleichen Qualitäten, Emil. Man muss sie nur mit Aufmerksamkeit zum Vorschein bringen.« Sie neigte lächelnd den Kopf. »Ich meine, mit der Aufmerksamkeit eines Menschen, der Sie liebt.«
Es war still im Raum, aber ich hörte das Blut in meinen Ohren pulsieren, meine Hände waren heiß und feucht, als ich sie aneinanderpresste. Ich hatte mich oft gefragt, wie Margot allein zurechtkam, und sie mir in Situationen vorgestellt, die ich nicht auszusprechen wagte. »Vielleicht wären Sie …«, hob ich an und beugte mich zu ihr vor, »vielleicht wären wir ein …«
Sie blickte mich an – blaue Augen, spitze Nase, listiges Lächeln. Aber als sie mein Gesicht sah, erlosch ihr Lächeln.
»Non, non, non!«
Sie schüttelte den Kopf, rang mit ihren Händen im Schoß und presste die Lippen zusammen. Doch dann lächelte sie wieder, aber es lag Trauer darin. »Sie sind so liebenswert, Emil, ritterlich und großzügig. Aber das fehlende Teil in Ihrem Herzen bin nicht ich. Wir sind Freunde. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun und Ihnen helfen, den Weg zu ihrer Liebe zu finden.«
Der Schlüssel
Madame Sparv
»Ich werde immer der Königsvogel sein«, sagte sie, »und Sie sein Bube.« Es war Ende März 1793 , wir saßen im oberen Zimmer und spielten Piquet, unser neues Lieblingsspiel. Das Fenster stand offen, die Nachtluft trug den Duft der Hyazinthen im Blumenkasten am Fenster herein. Madame Sparv hatte den Morgenmantel an, den sie am 16 . jedes Monats anlegte und erst am 29 . wieder auszog.
»Ein verirrter Bube«, sagte ich und mischte die Karten, »der von einer verräterischen Dame übertrumpft wurde.«
»Aber überlegen Sie doch, wie schlimm das Leben wäre, wenn die Uzanne beim Maskenball ihr Ziel erreicht hätte. Oder was geschehen wäre, wenn sie überlebt hätte. Sie, zum Beispiel, wären tot. Herzog Karl hätte eine ehrgeizige und hinterhältige Beraterin und sehr wahrscheinlich einen Erben.« Sie nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete damit auf mich: »Sie haben Ihrem Land einen großen Dienst erwiesen.«
Ich starrte sie an. »Was genau meinen Sie damit?« Ich hatte niemandem von meinen Anweisungen an die neue Köchin erzählt.
Madame Sparv setzte ein perfektes Spielergesicht auf. »Ich meine genau das, was ich sage.«
»Aber spielt denn all das überhaupt noch eine Rolle? König Gustav ist tot«, sagte ich betrübt.
»Ja, es spielt eine Rolle. Er hat vieles in Bewegung gesetzt, was nicht mehr aufzuhalten ist.« Sie faltete die Hände und schloss die Augen. »Ich sehe Gustav als jungen Prinzen in Paris, kurz davor, die Weltbühne zu betreten, voller Leben, Charme und Klugheit. Ach, was hätte er noch alles
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