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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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Gustav die Kugel kommen sah oder Ludwig das Fallbeil.«
    Hinken schlürfte seinen Kaffee. »Sie sehen aber nur halbtot aus.«
    »Diese Reise könnte noch immer mein Ende sein.«
    »Und wenn schon?« Hinken knallte den Becher laut auf den Tisch. »Sie könnten bereits mausetot sein oder im Zuchthaus oder allein in Ihrer jämmerlichen Wohnung – ein alternder, verängstigter Beamter, der mit ansehen muss, wie das ausgehende Jahrhundert Sie und Ihre Stadt langsam zu Nichts zerfallen lässt.«
    »Ich bin noch nicht mal dreißig.«
    Hinken schnaubte, seine Augenfältchen wurden tiefer, als er lächelte. »Dann haben Sie ja noch ein bisschen Zeit, um Ihr Oktavo zu Ende zu bringen.« Er zog seine weiße Tonpfeife heraus und stopfte sie, und bei dieser kleinen, unbedeutenden Geste bekam ich Heimweh nach meiner Stadt und nach Madame Sparv, nach Meister Fredrik und seiner Frau, nach Margot und dem Baby, nach Frau Murbeck, ja selbst nach Lars Nordén. »Wenn es tatsächlich so etwas gibt«, fügte er hinzu.
    »Oh, das gibt es«, sagte ich und spürte den Wind, der durch die Luke drang. »Wenn Sie die Karten deuten können und aufmerksam sind, können Sie sehen, wie es um Sie herum Gestalt annimmt. Meister Fredrik hat es aufgezeichnet. Madame Sparv sagt, wenn man lange genug lebt, kann man es in der Zeit zurückverfolgen. Ich glaube, das Oktavo existiert in einer eigenen Dimension: Es bestimmt das Hier und Jetzt, reicht zurück in die Vergangenheit und beeinflusst die Zukunft – wie ein prächtiges Gebäude, das immer höher und höher wird. Wenn man sich dazu entschließt, einzutreten, wird man wirklich wiedergeboren. Das Oktavo ist die Architektur der Beziehungen, die wir selbst aufbauen und mit denen wir die Welt erschaffen.« Ich strich über die Fächerschachtel des Ateliers Nordén, die ich immer bei mir trug, und spürte den glatten, harten Stein des Nordsterns über den runden Gebilden, die ferne Wolken darstellen sollten. Innen lag der Schmetterling und wartete. »Das Oktavo hat mir viel Gutes gebracht. Ich bin mit anderen Menschen verbunden. Ich liebe.«
    Wir saßen eine Weile schweigend da, Beine und Füße im Dunkeln verborgen. Das Stampfen des Schiffs ließ das Wasser zu beiden Seiten des Rumpfs in gischtenden Wellen aufspritzen, die sich an den Flanken brachen wie am Strand. Es war wie ein rhythmisches Gelächter, das mich daran erinnerte, dass wir bald diesen leeren, unendlichen Kreis des Ozeans verlassen und endlich meine Acht vollenden würden.
    Hinken stand auf und nahm seine Pfeife. »Kommen Sie und sehen Sie sich den Mond an, Sekretär. Dieser Anblick macht die Reise noch sehr viel lohnenswerter für Sie.«
    »Ach, mir geht es hier ganz gut«, sagte ich. Ich befürchtete, allein der Anblick des wogenden Meeres würde mir wieder Übelkeit bescheren.
    »Kommen Sie, Emil, die See ist hier wärmer und ruhiger, und Sie haben sich lange genug in Ihrer Kabine eingeschlossen.«
    Wir stiegen die steile Holzleiter hinauf auf Deck. Alles war still, bis auf die Glasenuhr, die acht Mal schlug: Hundswache. Der nachtblaue Himmel war samten und tief, die Sterne sahen aus wie ein atemberaubender Wurf von Pailletten, das Wasser schimmerte seidig unter der schäumenden Bugwelle. Die Wolkenbänke hinter uns, schwarz von den Stürmen, die uns fast den ganzen Weg von Dänemark herüber geplagt hatten, wurden von der Nacht verschluckt. Ich drehte mich in Fahrtrichtung. Ein zunehmender Dreiviertelmond war aus den Tiefen aufgestiegen und warf einen schimmernden Schein, der vor dem Schiff nach Westen fiel. Meine Lungen füllten sich mit der frischen Luft eines neuen Landes – endlich war ich den goldenen Weg gegangen.

Madame Sparvs Vision
    Herzog Karl war vier Jahre lang Regent, aber das Land wurde eigentlich von Gustav Adolph Graf Reuterholm regiert, einer zweifelhaften Gestalt, die man auch »schwedischer Robespierre« nannte. Im Jahr 1796 wurde König Gustavs Sohn mündig, er übernahm die Regierungsgeschäfte, und Herzog Karl trat von seiner Vormundschaft zurück. Gustav  IV . Adolf war ein eigenwilliger und einsamer Herrscher. Nach einem verheerenden Krieg gegen das französisch-russische Bündnis, der Schweden an den Rand des Ruins trieb, wurde er 1809 vom Ständereichstag abgesetzt. Der Herzog wurde endlich König von Schweden und bestieg als Karl  XIII . den Thron.
    Der alternde und kinderlose Karl – sein Sohn war bereits verstorben – brauchte einen Nachfolger. Der Reichstag wählte als Thronfolger einen Großneffen

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