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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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lange genug, damit Sie das Ereignis vorantreiben konnten. Das ist das Wesen solch machtvoller Gegenstände.«
    »Ich habe doch gar nichts aufgehalten!«, sagte ich und schlug mit der Faust an die Wand. »Das Oktavo hat Gustav nicht gerettet, und ganz sicher hat es auch mich nicht gerettet.«
    Sie setzte sich wieder an den Tisch und fächerte ihre Karten mit einer einzigen schnellen und eleganten Handbewegung auf. »Vielleicht hat das Stockholm Oktavo sein eigenes Zeitfenster, und das wahre zentrale Ereignis wird erst in vielen Jahren eintreten. Oder vielleicht wartet auf Sie das erweiterte Oktavo.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie sind noch nicht fertig. Der goldene Weg, Emil. Liebe und Verbundenheit.«
    Ich setzte mich und nahm meine Karten wieder auf die Hand. Sie verhießen mir eine gute Partie, aber ich konnte mich nicht konzentrieren, mein Gesicht wurde heiß. »Liebe und Verbundenheit? Ich habe Liebe und Verbundenheit mittlerweile kennengelernt, aber deren Weg ist trügerisch und voller Kummer. Ich habe sehr viel mehr verloren als gewonnen. Ich habe alles verloren.«
    Sie schob ihre Karten zusammen und sah mich an. »Sie sind immer noch Sekretär, Sie machen immer noch Geld an den Spieltischen. Die Drohung einer Heirat ist vom Tisch, nachdem Ihr Vorgesetzter ins Lotterie-Amt gewechselt hat. Sie haben Freunde und Kollegen in der Stadt und sind in vielen Häusern willkommen wie ein Familienmitglied. Sie sind noch immer jung und können tun und lassen, was Sie wollen. Was haben Sie verloren?«
    Ich sortierte mein Blatt, steckte die einzelnen Farben zusammen, dann legte ich die Karten offen auf den Tisch, zum Zeichen, dass ich nicht mehr weiterspielte. »Ich habe meine Lebensweise verloren«, sagte ich.
    Madame Sparv dachte kurz nach, dann legte auch sie ihre Karten ab. »Sie haben nicht Ihre Lebensweise verloren, sondern Ihren Elan. Oder jemand hat ihn Ihnen gestohlen.« Ihre Hände waren so schnell, dass ich nie sah, wie sie die Karten aufnahm. Sie ging zur Ecke und öffnete Kassiopeia. Ich stand auf und schrie überrascht, dann erstaunlicherweise kummervoll auf, als ich sah, wie sie die Ofenklappe öffnete und den Fächer in die glühenden Kohlen warf. Wir sahen zu, wie die Elfenbeinstäbe schwarz wurden und sich in der Hitze kräuselten, das Blatt ging in Flammen auf, die im Luftzug hell aufloderten. Madame Sparv wischte sich die Hände am Rock ab, als hätte sie gerade eine Schmutzarbeit verrichtet. »Wiedergeburt ist eine vorwärtsgerichtete Bewegung«, sagte sie. »Gehen Sie nun und bringen Sie es zu Ende, Emil.«

Das letzte Kapitel

Das Ende des Jahrhunderts
    Quellen: E. L., Kapitän H.
    »Dann würden Sie also auch sagen, dass das Jahrhundert bereits ein paar Jahre vor dem eigentlichen Datum zu Ende gegangen ist?«, fragte ich.
    Hinken nickte ernst, er schürzte die Lippen. »Ich würde sagen: Es ist tot.«
    Wir saßen gebeugt an einem geschrubbten Holztisch, vor uns ein Teller Zwieback und zwei Becher mit starkem, süßem Kaffee. Eine Kerze, die durch das dicke, mit Luftblasen versehene Glas einer Laterne schien, warf ein abgerundetes Rechteck gelben Lichts auf Hinkens Gesicht. Die schaukelnden Wellen und die knarzenden Taue waren eine Erleichterung nach den tosenden Stürmen, denen wir – Ewigkeiten, wie es schien – ausgesetzt gewesen waren. Es war seit fast zehn Tagen mein erster Besuch in der Kombüse, ich war geschwächt von der Tortur meiner Seekrankheit, aber froh, dass ich noch am Leben war.
    »Um genau zu sein: Man hätte den Totenschein auf März 1792 ausgestellt«, fügte ich hinzu.
    »Vielleicht in Schweden«, sagte Hinken. »Aber in Anbetracht der Vormachtstellung Frankreichs würde ich eher sagen, auf vergangenen Januar. 1793 .« Er stieß einen zischenden Pfiff aus – das Geräusch einer scharfen Klinge, die in der winterlichen Kälte auf den Hals Ludwigs  XVI . herabfiel. »Oder noch weiter zurück ins Jahr 1789 , als der Sturm auf die Bastille und danach auf Versailles stattfand. Vielleicht war dies das Ende.«
    Ich stand auf und machte das Bullauge einen kleinen Spalt auf, die kühle Meeresbrise wehte in den vollgestopften Raum, in dem es nach Speck, Schweiß und Pech roch. Zum ersten Mal in zehn Tagen wurde mir nicht mehr allein schon von einem Geruch schlecht. »1789 war der Anfang vom Ende«, sagte ich. »Es war das Jahr, in dem ich Madame Sparv kennenlernte. In diesem Jahr kamen die Oktavos all der Mörder in Gang. Ich sah es damals nicht kommen, genauso wenig wie König

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