Das Stonehenge - Ritual
sagt der Meister. »Du könntest von der Initiation noch ein wenig geschwächt sein.«
Ein guter Rat. Nach mehr als hundert Stufen beginnt Gideon zu schwitzen und zu keuchen. Der Mann vor ihm steigt weiter wie eine Bergziege aufwärts, indem er voller Schwung eine Stufe nach der anderen erklimmt.
Gideon hat immer eine Hand an der Wand. Er bemerkt die aufwendigen Bilder, die in den Stein eingemeißelt sind: uralte Reliefs, die Bauern bei der Feldarbeit zeigen, Frauen mit Säuglingen auf dem Arm, Viehherden an Bächen und Flüssen. An den gegenüberliegenden Wänden sieht er weitere Szenen: Männer, die riesige Steinblöcke heben und mit dem Anlegen des Kreises beginnen. Menschen, die mit gesenkten Häuptern vor Hügelgräbern stehen. Andere Bilder zeigen den Orbit der Sonne, die Konstellationen der Sterne und die Phasen des Mondes. Weiter oben entdeckt Gideon eine furchteinflößendere Abbildung.
Männer in langen Gewändern stehen um eine auf dem Schlachtstein festgebundene Gestalt herum, während der Meister bereits den Hammer erhoben hat. Gideon muss daran denken, dass die junge Amerikanerin, das Mädchen aus den Nachrichten, irgendwo unter ihnen in eine Mauer gesperrt ist.
Er beginnt zu schwanken.
Eine Hand greift nach einem Zipfel seines Gewands. Der Henge-Meister zieht ihn ganz nah an die Wand. »Sei vorsichtig!«
Gideon findet sein Gleichgewicht wieder und atmet tief durch. »Es geht schon wieder.«
»Gut. Dann komm weiter.«
Nach ein paar letzten Stufen sind sie oben. Erst jetzt sieht Gideon, dass auf der anderen Seite eine Treppe nach unten führt, hinab zu den Kammern und dem Großen Gewölbe.
Wieder benutzt der Meister den Schlüssel, den er um den Hals trägt.
Der Bereich, in den Gideon nun tritt, ist Welten von der Archivkammer entfernt und auf seine Weise fast noch erstaunlicher.
Das Erste, was ihm auffällt, ist das Licht – das grelle weiße Licht von Neonröhren, die flackern und zischen, als wären in ihnen wütende Geister gefangen. Der Boden und die Wände sind grau, aber es handelt sich nicht um Stein, sondern um Beton und Verputz. Er hat das Gefühl, plötzlich in eine riesige, moderne Lagerhalle oder Großgarage geraten zu sein.
Vor ihm erstreckt sich etwa ein Viertelhektar Beton, umgeben von Hunderten von Metern grau verputzter Wände. Der Meister tritt auf eine Stahltribüne, die etwa zehn Meter über dem Boden angebracht ist. Gideon folgt ihm. Am anderen Ende der Halle parken etliche Fahrzeuge: klobige Geländewagen und ein Transporter, der ihm definitiv vertraut vorkommt – Dracos weißer Lieferwagen.
Es handelt sich um mehr als nur eine Garage. Dieses Gefühl hat er schon, noch ehe er den Blick über die ganze graue Weite schweifen lässt. Die Halle ist in verschiedene Bereiche untergliedert. Es gibt Dutzende von Garderobenschränken mit Bänken davor, außerdem Sitzgruppen aus Tischen und Stühlen. Gideon entdeckt auch einen Küchenbereich mit etlichen Spülbecken, endlosen Arbeitsflächen zur Zubereitung von Speisen, reihenweise große Kühl- und Gefrierschränke sowie Mikrowellen, Öfen und Pfannen.
Genug Raum und Ausrüstung, um eine Armee zu verköstigen.
»Das ist unsere Einsatzzentrale«, erklärt der Meister beiläufig. »Unter der Erde respektieren wir unsere Traditionen genauso, wie unser Vorfahren es taten. Über der Erdoberfläche sind wir eine Elitetruppe. Morgen wirst du hier arbeiten. Auch du sollst deinen Beitrag leisten zu den Vorbereitungen für den großen Tag.«
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Samstag, 26 . Juni, einen Tag
vor dem neuen Vollmond
Zaghaft zieht der Morgen an den dunklen Vorhängen des nächtlichen Himmels. Die taunassen Wiesen von Stonehenge sind von Spähern umgeben. Auch auf dem leeren Parkplatz stehen ein paar von ihnen. An diesem Tag sind keine Touristen zu frühmorgendlichen Besichtigungen zugelassen worden.
Der Henge-Meister folgt zunächst dem öffentlichen, von Millionen Füßen ausgetretenen Pfad, geht dann ein Stück über das frisch gemähte Gras und betritt schließlich den Kultkreis. Der heutige Tag wird sechzehn Stunden, siebenunddreißig Minuten und fünf Sekunden dauern. Die Sonnenhöhe beträgt 61 , 9 Grad.
Morgen wird es zu ihrer ersten größeren Verschiebung für zehn Tage kommen. Ihre Höhe wird dann nur noch 61 , 8 Grad betragen.
Der Mond ist bereits vor über einer Stunde untergegangen. Es ist nichts mehr zu sehen von Luna, der Dame in Weiß. Sie tanzt in verborgener Dunkelheit, über vierhunderttausend Kilometer entfernt. Abends um
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