Das Stonehenge - Ritual
Neugierig spähen sie zu Gideon hinein. Nachdem er sein mageres Frühstück beendet hat, füllt er ein Glas mit Leitungswasser und nimmt es mit nach oben.
Überall liegen Bücher herum, aber er hat keine Lust aufzuräumen. Er möchte nur lesen. Den Text verschlingen, bis er irgendwann vielleicht einen Sinn ergibt. Gideon greift nach dem Band, mit dem er sich am Vorabend zuletzt beschäftigt hat, und überfliegt die entschlüsselten Zeilen, die er mit Bleistift über die Schrift seines Vaters gekritzelt hat:
Die Wege der Zunft sind wunderbar einfach. Von göttlicher Reinheit. Unsere Vorfahren hatten recht: Es gibt nicht den einen Gott, sondern viele. Kein Wunder, dass die Führer und Anhänger der einzelnen Religionen so inbrünstig glauben, sie allein hätten einen Messias entdeckt. In Wirklichkeit haben sie nur einen Messias entdeckt. Sie sind über spirituelle Spuren der Geheiligten gestolpert – über einzelne Leben, mit denen die Geheiligten in Berührung gekommen sind, und über Gaben, die sie den Betreffenden zum Geschenk gemacht haben.
Es ist so schade, dass die jeweiligen Anhänger derart stur darauf beharren, nur einen bestimmten Gott anzubeten. Wenn sie doch bloß wüssten, dass ihnen ihre jeweilige Gottheit für sich allein genommen nur eine einzige, spezielle Art von Segen gewähren kann. Das Bedürfnis des Menschen, die Religion zu monopolisieren, hat ihn die Augen vor der Vielfalt ihrer Segnungen verschließen lassen.
Gideon versucht, möglichst offen zu bleiben und sich noch keine feste Meinung zu bilden. Allem Anschein nach hat sein Vater die Steine als Gefäße betrachtet. Als Behausungen für die Götter. War das denn wirklich so verrückt? Milliarden von Menschen haben schon Ähnliches geglaubt: dass Götter dort wohnen, wo sie verehrt werden, dass sie auf mysteriöse Weise in goldenen Tabernakeln auf Hochaltären schweben oder dass sie sich durch ritualisierte Gesten oder gemeinsame Gebete herbeibeschwören lassen. Recht viel abwegiger sind die Überzeugungen seines Vater wohl auch nicht.
Gideon blickt auf den Band hinunter, den er in Händen hält. Er betrachtet die schwarze Tinte, die aus dem Füllfederhalter seines Vaters stammt. In einem ganz wörtlichen, physikalischen Sinn hat das Papier die intimsten Gedanken des Schreibenden in sich aufgesogen. Obwohl all diese Worte bereits vor Jahrzehnten niedergeschrieben wurden, vermitteln sie ihm etwas, das er nicht so ganz begreift – eine Art emotionalen Kontakt mit seinem Vater. Fast kommt es ihm vor, als könnte er ihn berühren.
Gideon fragt sich, ob vielleicht etwas Ähnliches passiert, wenn man die Steine anfasst. Saugt man dabei womöglich die Gedanken, Gefühle und Weisheiten von Menschen auf, die lange vor einem gelebt haben – Menschen, die in der Antike als die Weisesten der Weisen galten und so brillant waren, dass man sie für Götter hielt?
Erst jetzt, als ihm die Vorstellung von den Geheiligten nicht mehr ganz so verrückt erscheint, wendet er sich wieder den Worten zu, die ihm schon die ganze Zeit Sorgen bereiten.
ΨΝΔΕ .
Blut.
ΚΙΤΥΗ .
Opfer.
Erst jetzt wagt er, den ganzen Eintrag zu lesen:
Die Geheiligten bedürfen der Erneuerung, und zwar einer regelmäßigen Erneuerung, weil sich ihr Verfall und Niedergang ansonsten beschleunigt. Die Anzeichen dafür sind bereits vorhanden. Wie närrisch von uns zu glauben, wir könnten Kraft aus ihnen ziehen, ohne sie ihnen wieder zurückzugeben. Die Gottheiten sind im Blut und Gebein unserer Vorfahren verwurzelt. Sie haben sich für uns hingegeben. Nun müssen wir uns ihnen hingeben.
Ein Opfer ist unumgänglich. Es muss Blut fließen. Um der zukünftigen Generationen willen. Zum Wohle aller und insbesondere zum Wohle meines geliebten Sohnes.
Dass er in dem Text erwähnt wird, trifft Gideon wie ein Schlag. Noch größer wird sein Schock, als er weiterliest:
Gerne bin ich bereit, mein eigenes Blut hinzugeben, mein eigenes Leben. Ich hoffe nur, dass ich mich der Aufgabe würdig erweisen werde. Würdig genug, um etwas zu verändern – das Schicksal zu ändern, das, wie ich weiß, meinen armen, mutterlosen Sohn erwartet.
37
»Haben Sie meine vermisste Person schon gefunden?«, bellt DCI Jude Tompkins den Gang entlang. Die Frage gilt Megan Baker, die gerade eine Tasse Tee aus der Büroküche an ihren Schreibtisch trägt.
»Nein, Ma’am. Noch nicht.«
»Aber Sie sind doch an der Sache dran, oder? Bestimmt sind Sie mit der Akte, die ich Ihnen gegeben habe, längst
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