Das Stonehenge - Ritual
»Aufbahrungshalle« steht, hält Abrahams inne. Er hüstelt ein wenig, wobei er respektvoll die Hand vor den Mund hält. »Bevor wir hineingehen, möchte ich Sie noch auf zwei Dinge hinweisen. Wir haben uns erlaubt, Ihrem Herrn Vater die Sachen anzuziehen, die wir von der Polizei bekommen haben. Falls sie Ihnen nicht angemessen erscheinen, sind wir natürlich gerne bereit, sie gegen Ihnen genehmere auszutauschen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Er mustert Gideon ernst. »Unsere Kosmetikerin hat sich große Mühe gegeben, aber möglicherweise werden Sie trotzdem ein wenig schockiert sein, wenn Sie ihn sehen.«
»Ich verstehe.«
»Viele unserer Kunden erwarten, dass der von ihnen geliebte Mensch noch genau so aussieht, wie sie ihn in Erinnerung haben. Ich fürchte, in vielen Fällen ist das einfach nicht machbar. Ich wollte Sie nur schonend auf diese Möglichkeit vorbereiten.«
Mit einem mitfühlenden Lächeln öffnet Abrahams die Tür. Gideon schlägt der intensive Duft frischer Blumen entgegen. Die Vorhänge sind zugezogen, und wohin der Blick auch fällt, flackern Kerzen. Nathaniel Chase ist in einem Mahagonisarg aufgebahrt, der mit Crêpestoff ausgeschlagen ist. Der obere Teil des Sargdeckels ist aufgeklappt, so dass man den Kopf sehen kann. Als Gideon sich der Leiche nähert, wird ihm sofort klar, dass die Kosmetikerin tatsächlich gute Arbeit geleistet hat. Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass sich sein Vater eine Waffe an die Schläfe gehalten und dann abgedrückt hat.
Erst auf den zweiten Blick fallen Gideon gewisse Anzeichen auf. Die Haut ist zu orange, das Haar in seltsame Richtungen gekämmt. Oberhalb des linken Ohrs wirkt der Kopf seines Vaters ein wenig verformt. An dieser Stelle muss die Kugel ausgetreten sein.
Abrahams berührt Gideon sanft am Arm. »Soll ich Sie eine Weile allein lassen?«
Gideon gibt ihm keine Antwort. Es kommt ihm vor, als würden seine Empfindungen in schneller Abfolge übereinandergeblendet. Bedauern. Liebe. Zorn. Verquirlt zu einer klumpenden Mischung. Er kann sich noch vage an das Begräbnis seiner Mutter erinnern. Die Tränen. Die schwarzgekleideten Menschen. Die Männer mit dem langen, seltsamen Wagen. Er weiß sogar noch, wie er damals am Grab stand und fest die Hand seines Vaters umklammerte, weil er das Gefühl hatte, jeden Moment über die Kante in das Erdloch hinunterzufallen. Das alles ist plötzlich wieder ganz präsent.
»Ich habe genug gesehen, danke.« Er lächelt zu seinem Vater hinunter. Dann küsst er die eigenen Fingerspitzen und legt sie für einen Moment auf den verformten Kopf. Doch die kurze Berührung reicht nicht aus. Er kann es einfach nicht dabei belassen. Entschlossen beugt er sich über den Sarg und drückt die Lippen auf die Stirn seines Vaters. Soweit er sich erinnert, hat er das noch nie zuvor getan. In seinem Unterbewusstsein stürzen Mauern ein. Tränen schießen ihm in die Augen. Gideon schlingt die Arme um den Mann, der ihn gezeugt hat, und beginnt zu schluchzen.
Craig Abrahams schleicht sich leise aus dem Raum. Nicht aus Taktgefühl, sondern weil er dringend einen Anruf tätigen muss. Einen sehr wichtigen Anruf.
39
Noch neun Tage.
Wohin der Henge-Meister auch blickt, alles gemahnt ihn an diese Tatsache. Im Moment starrt sie ihm von seinem Arbeitsplatz entgegen: vom Kalender auf seinem Schreibtisch ebenso wie von der Titelseite der
Times
, die einer seiner Assistenten ordentlich für ihn zusammengefaltet hat. Sie ist einfach allgegenwärtig.
In gut einer Woche muss er den zweiten Teil des Erneuerungsrituals ausführen. Er muss die Jünger auf den Nexus vorbereiten. Dabei sind sie noch nicht annähernd so weit. Wenn nur Chase nicht alles ruiniert hätte. Hätte er die Nerven behalten und getan, was von ihm erwartete wurde, wäre alles gut gewesen. Aber dem ist nicht so.
Der Meister lässt den Blick zu einem goldenen Bilderrahmen gleiten, aus dem ihm das liebe Gesicht seiner Frau anlächelt. Heute ist ihr Hochzeitstag. Ihr dreißigster. Aber es hätte auch ganz anders kommen können, wenn sie den Ärzten und ihrer sogenannten Expertenmeinung nicht getrotzt hätte. Vor zwanzig Jahren waren diese Ärzte unter Einsatz der neusten Technik zu ihrer »unfehlbaren« Diagnose gelangt: PH . Zwei Buchstaben, mit denen damals weder seine Frau noch er etwas anfangen konnten. Beide starrten sie den Arzt, der es ihnen mitteilte, ungläubig an. Nur das Zucken in seinem Augen verriet ihnen, dass es sich um etwas Ernstes
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