Das Stonehenge - Ritual
langer, knapp zwei Meter breiter und etwa einen Meter fünfzig hoher Holzschuppen. Das Gebilde sieht so eigenartig aus, dass Gideon es sofort als eines der selbstgebauten Mini-Observatorien seines Vaters erkennt: ein Schutz vor Wind und Regen, ausgestattet mit einem aufklappbaren Dach.
Im Inneren des Holzverschlags findet er jede Menge Sachen seines Vaters: einen alter Campingkessel, Tassen, Teebeutel, Stifte, Papier, astronomische Schaubilder, Nachschlagewerke und Fotografien. Viele Fotografien. An den Wänden und auf dem Boden.
Gideon kann sich gut vorstellen, wie sein alter Herr hier immer saß und zu den Sternen emporblickte. Verloren in seine eigene Gedankenwelt. Damit beschäftigt, Schaubilder zu zeichnen. Gideon rollt eines auseinander. Es zeigt, wie sich die Sonne zur Zeit der Sommersonnenwende nach dem galaktischen Äquator ausrichtet. Er findet eine weitere Zeichnung, eine Darstellung der Position diverser wichtiger Planeten zur Zeit der Wintersonnenwende.
Er betrachtet die an der Wand aufgehängten Fotos. Eine Ausstellung, die völlig neu für ihn ist, geschaffen von einem Künstler, den er kaum kannte. Dutzende der Aufnahmen zeigen den Polarstern. Gideon muss daran denken, wie sein Vater ihm einst erklärte, welch wichtige Rolle der große Nordstern spiele und dass dessen Aufgabe als Leitstern für Astronomen und Seefahrer im Lauf der Zeit von einem Stern auf den anderen übergehe.
Gideon studiert ein paar Aufnahmen, die eine weitere Ansammlung von Sternen zeigen: die Plejaden. Die Sieben Schwestern. Eine Zeile von Tennyson kommt ihm in den Sinn: »So manches Mal sah ich Plejaden, aufsteigen in die laue Nacht, Glitzernd wie ein Schwarm Glühwürmchen, verhakt in eines Silberbandes Pracht.«
In nostalgischer Stimmung lässt Gideon sich auf den Boden sinken und blättert langsam die Fotografien und Schaubilder durch. Da sieht er es plötzlich. Ein einzelnes Bild, das ihm den schönen Moment verdirbt: Stonehenge.
Es handelt sich um eine seitliche Draufsicht, die den Steinkreis jedoch nicht in seinem aktuellen Zustand zeigt, sondern so, wie er einmal gewesen sein muss, als die Alten ihn seinerzeit fertigstellten. Gideon sieht sich das Ganze etwas genauer an. Schwache weiße Linien verlaufen von den Steinen zu weißen Punkten über ihnen. Allmählich dämmert ihm, worum es sich bei den Pünktchen handelt: Sterne und Sternbilder. Die Steine werden hier mit den Bewegungen von Planeten und Sternen in Verbindung gebracht. Zarte Linien zerschneiden das Schaubild in vier Teile. Winzige Buchstaben markieren Norden, Süden, Osten und Westen. Zwei weitere verblasste Wörter – eines am oberen und eines am unteren Rand – sind kaum noch lesbar. Erde. Himmel.
Gideon spürt einen kalten Schauder im Nacken. Demnach betrachteten die Jünger Stonehenge nicht nur als den Mittelpunkt ihres eigenen Lebens. In ihren Augen war es weitaus mehr.
Das Zentrum des siderischen Tierkreises.
Das Zentrum des gesamten Universums.
79
Als Megan und Jimmy die verbrannte Scheune verlassen, haben sich bereits die ersten Staus gebildet. Im Schneckentempo kriechen die Autos Richtung Stonehenge. Megan verflucht die Blechlawine anlässlich der Sonnenwende. Sie treffen eine ganze Stunde später im Präsidium ein, als sie gehofft hatte. Sofort ruft sie ihren Ex an, um zu hören, wie es Sammy geht. Zum Glück ist alles in Ordnung.
»Wie läuft es denn bei dir so?« Erstaunlicherweise klingt Adam, als wäre ihm nach einem Plausch zumute.
»Gut.« Megan fummelt nervös am Telefon herum. »Zumindest war ich bis vor ein paar Stunden noch dieser Meinung. Ich bin aus dem Fall raus.«
»Warum denn das?«
»Dank Ihrer Majestät, Jude Tompkins. Deswegen.«
»Allen Ernstes?« Er klingt mitfühlend. »Was läuft da ab? Haben ihnen zu viele Leute an dem Fall gearbeitet?«
»Ganz im Gegenteil, sie holen sich jetzt hohe Tiere aus London dazu. Da ist kein Platz mehr für unsereins. Ausgerechnet jetzt, als es gerade interessant wurde.«
»Wieso, bist du auf eine heiße Spur gestoßen?«
»Nicht, was das Mädchen betrifft, aber der Tod ihres Freundes gilt jetzt offiziell als Mord. Die Autopsie hat es bestätigt.«
Adam zeigt sich hilfsbereit. »Hör zu, Meg, falls du möchtest, dass Sammy noch eine Nacht bei mir bleibt, habe ich damit kein Problem. Wenn du der Meinung bist, dass du es mit ein bisschen mehr Zeit zurück ins Team schaffst, übernehme ich sie liebend gerne noch einmal.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Ich genieße es sehr, sie
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