Das Strandhaus
Kapitel
Sommer 1956
»Was soll ich nur tun?«, fragte Amy. Sie bückte sich nach einem Kieselstein im Sand, betrachtete ihn flüchtig und schleuderte ihn ins Meer hinaus. »Jede Nacht, seit Maria und Buddy verschwunden sind, quälen mich diese entsetzlichen Albträume.«
»Hey, die Träume werden irgendwann aufhören«, erwiderte Ronnie. Aber er klang nicht sonderlich überzeugt.
Wolken verdeckten die Morgensonne. Der Wind brachte einen Hauch von Kühle vom Ozean herüber. Schwarze Gewitterwolken am Horizont bewegten sich schnell auf den Strand zu.
Das trübe Wetter passte zu Amys Stimmung. Sie zog das gelbrosa geblümte Tuch zurecht, das sie um ihre kurzen Locken gebunden hatte. Sie trug dieselben beigefarbenen Bermudashorts wie am Tag zuvor und ein langärmliges weißes Hemd ihres Vaters, die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgerollt.
Sie hatte sich keine großen Gedanken darüber gemacht, was sie an diesem Morgen anziehen sollte. Was spielte das auch für eine Rolle? Alle ihre Gedanken kreisten um Maria. Ob sie wachte oder schlief.
»Es wird ein Gewitter geben«, sagte Ronnie mit einem Blick auf die düstere Wolkenfront am Horizont.
»Ist mir egal«, meinte Amy bedrückt. »Lass es regnen. Selbst wenn es den ganzen Sommer regnet, mir ist alles egal.«
»Ich muss auch immer an Maria denken«, murmelte er, als sie langsam weiter am Strand entlanggingen. »Und an Buddy. Buddy war so ein guter Schwimmer. Ich verstehe einfach nicht …«
»Vielleicht sind sie von Haien angegriffen worden«, erwiderte Amy. »Es ist das Einzige, woran ich denken kann. Vielleicht träume ich deshalb nachts immer von Haien. Vielleicht …«
»Ich glaube nicht, dass wir es jemals erfahren werden«, meinte er leise und legte eine Hand auf Amys zitternde Schulter. »Es ist schon Tage her, und nirgendwo hat man ein Zeichen von ihnen gefunden.«
»Genau das verwirrt mich so.« Sie griff nach Ronnies Hand. »Wo sind Buddys Eltern? Warum haben sie sich nicht an die Polizei gewandt? Wo stecken sie? Kümmert es sie überhaupt nicht, dass ihr Sohn ertrunken ist?« Ihre Stimme klang schrill vor Aufregung.
»Hey, hey«, meinte Ronnie beschwichtigend. »Reg dich ab, Maus, immer mit der Ruhe.«
»Ich kann nichts dafür, Ronnie. Ich bin einfach fix und fertig.« Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Sie wischte sie mit dem Handrücken ab und schaute wieder zu dem Strandhaus hinüber, das auf seinen zerbrechlich wirkenden Pfeilern über das Wasser hinausragte.
»Es ist ein Rätsel«, meinte auch Ronnie, als er ihrem Blick folgte.
»Es hätte sich doch jemand nach Buddy erkundigen müssen. Irgendjemand.«
Donner grollte in der Ferne.
»Was für ein grauenhafter Sommer«, murmelte Amy und schüttelte den Kopf.
Sie blieben abrupt stehen, als sie jemanden ihre Namen rufen hörten. Amy fuhr herum und war überrascht, Stuart winkend auf sich zusprinten zu sehen.
»Hi. Gut, dass ich euch gefunden habe.« Stuart bremste ab, als er sie erreicht hatte, und stützte die Hände in die Hüften, während er wieder zu Atem zu kommen versuchte. Sein schwarzes Haar war fest mit Brillantine an den Kopf geklebt. Selbst die Windböen vom Meer konnten es nicht durcheinander pusten. Er trug ein kurzärmliges Sporthemd über ausgebeulten Levis-Jeans, die noch ziemlich steif und neu aussahen.
»Was gibt’s denn so Eiliges?«, erkundigte Ronnie sich.
»Ich bin nur gekommen, um mich zu verabschieden. Wir fahren nach Hause. Mein Dad muss wieder zur Arbeit, deshalb …« Stuart zuckte die Achseln.
»So ein Pech«, meinte Ronnie.
»Wie schade«, fügte Amy hinzu. Sie hatte Stuart seit Marias Tod bisher nur einmal gesehen.
»Hmmm.« Stuart nickte bedrückt. »Ich wollte noch ein letztes Mal am Strand entlanggehen. Ein paar Muscheln sammeln und so.« Seine Stimme brach. »Es ist wirklich kein Sommer, an den ich mich gern zurückerinnern möchte. Also dann …« Er winkte ihnen flüchtig zu und joggte weiter den Strand entlang.
Amy schaute ihm nach, wie er an dem Strandhaus vorbeiging und gelegentlich stehen blieb, um eine Muschel aufzuheben. Kurz darauf verschwand er um eine Biegung und war außer Sichtweite.
»Hey, Maus, wollen wir nicht ein bisschen in die Stadt gehen oder so?«, schlug Ronnie vor.
Statt einer Antwort griff Amy plötzlich aufgeregt nach seinem Arm.
»Was ist los?«, fragte er, verwirrt über den furchtsamen Ausdruck auf ihrem Gesicht.
»Sieh doch mal!« Sie zeigte auf das Strandhaus. Eine Welle der Angst überrollte sie. Der Atem stockte
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