Das stumme Lied
Butterblumen. Die Luft erwärmte sich und verströmte wieder die Gerüche des Landes: das Gras und die Baumrinde nach einem Regen; der zwischen den Fingern geriebene Bärlauch; die feuchte, gerade umgepflügte Erde. Wenn sie spazieren ging und die Gerüche aufnahm, erinnerte sich Kirsten an den letzten Herbst, als sie sich innerlich tot gefühlt hatte und nichts sie berühren konnte. Jetzt, da sie ein Ziel hatte, eine Mission, konnte sie die Welt wieder genießen.
Das Buch überzeugte sie fortwährend von der Heiligkeit ihrer Mission und schien Erfolg zu versprechen. Als sie eines klaren, herrlichen Morgens Mitte Mai auf der letzten Seite las, Gott schaue »nicht das mit seinen gütigen Augen an, was du bist oder was du warst, sondern das, was du sein wirst«, wusste sie ohne jeden Zweifel, dass sie erfolgreich sein würde. »Alle heiligen Wünsche wachsen mit Verzögerung, verblassen sie dagegen durch die Verzögerung, waren sie niemals heilig.« Beharrlichkeit. Entschlossenheit. Das waren die Eigenschaften, die sie pflegen musste, um die Heiligkeit ihrer Wünsche zu beweisen. Ihr Bedürfnis würde nicht verblassen; es war mit ihr, ein Teil von ihr, Tag und Nacht.
Während dieser Phase fuhr sie weiterhin nach Bath und traf Laura, wenn auch nicht mehr so häufig wie vorher. Eine Sitzung alle vierzehn Tage schien für das, was sie zu besprechen hatten, völlig ausreichend. Zum Ende hin waren Kirstens Gefühle, ein »Opfer« zu sein, das Hauptthema geworden.
Manche psychologischen Zirkel seien der Ansicht, erklärte Laura, dass es Menschen gibt, die geborene Opfer seien und die auf gewisse Weise Mörder anzögen. Unter den entsprechenden Umständen würden sie bekommen, für was sie geboren worden seien. Was uns passierte, passierte nicht unabhängig von uns, behaupteten einige Psychologen, und aus diesem Grund machten manche Menschen immer wieder die gleichen Fehler - sie heirateten zum Beispiel den falschen Mann oder die falsche Frau oder gerieten ständig in Situationen, in denen sie missbraucht wurden, sie bettelten geradezu um Schwierigkeiten. Mit Masochismus habe das nichts zu tun, sagte Laura, aber tief im Unterbewusstsein dieser Menschen sei etwas verwurzelt, das sie oder ihn ständig dazu verleite, dieselben falschen Entscheidungen zu treffen.
Glaubte Kirsten, dass sie ein solcher Mensch war? Fühlte sie sich schuldig für das, was ihr geschehen war? Hatte sie das Gefühl, als hätte sie darum gebeten?
Zunächst verwirrte Kirsten dieses Thema. Eine lange Zeit hatte sie einfach angenommen, dass sie das Pech gehabt hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, dass sie das unglückliche Opfer eines zufälligen Überfalls geworden war. Tatsächlich war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie das Grauen herausgefordert hatte. Denn das war ja die typische Denkweise eines Vergewaltigers, dass sein Opfer es nicht anders gewollt hatte, weil sie in einer bestimmten Weise gekleidet war oder zur falschen Zeit gelächelt hatte, oder? Kirsten konnte das nicht akzeptieren.
Wenn sie in dieser Nacht auf Hugos Annäherungsversuche eingegangen und mit ihm nach Hause gegangen wäre, dann wäre nichts von alledem passiert. Wenn sie nicht einigermaßen früh und nüchtern nach Hause gewollt hätte, um für den nächsten Tag zu packen, dann wäre sie vielleicht noch länger auf der Party geblieben und später mit einer Gruppe betrunkener Kommilitonen durch den Park gegangen. Wenn sie in dieser Nacht nicht durch den Park gegangen wäre, sondern die gut beleuchteten Straßen genommen hätte, wenn sie nicht vom Weg abgeschweift wäre, um wie ein albernes Mädchen auf dem Löwen zu sitzen ... und so ging es weiter: nichts als eine Menge Wenn und Aber. Und es gab auch die positive Seite: Wenn dieser Mann nicht genau zur richtigen Zeit seinen Hund ausgeführt hätte, dann wäre Kirsten gestorben wie die späteren Opfer.
Doch je länger sie mit Laura darüber sprach, desto klarer wurde ihr, dass die Nacht nur dann hätte anders verlaufen können, wenn sie ein anderer Mensch gewesen wäre. In gewisser Weise hatten diese Psychologen Recht. Die Gründe für das Geschehene waren damit verbunden, wer sie war. Zum Beispiel hätte sie sich auch auf Hugo einlassen können. Er war ein recht attraktiver Mann, eine Menge ihrer Freundinnen wären mit ihm gegangen; und tatsächlich hatten die meisten es irgendwann einmal getan. Aber nein, »so ein« Mädchen war sie nicht. Und durch den Park war sie
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