Das stumme Lied
nach Einbruch der Dunkelheit ständig allein gegangen, ganz egal, wie besorgt sich ihre Freunde oft gezeigt hatten. Außerdem wäre es ihr niemals in den Sinn gekommen, diesem kindischen Drang nachzugeben, auf dem Löwen zu reiten, wäre sie nicht allein gewesen. Mit anderen Worten hielt sie sich vielleicht tatsächlich für ein geborenes Opfer und hatte sich das vorher nur nicht eingestanden. Aber Laura sagte sie das nicht. Sie konnte spüren, dass Laura sie prüfte und herausfinden wollte, wie sensibel sie war, also gab sie ihr die Antworten, die sie für die richtigen hielt. Laura schien erleichtert zu sein.
Kirsten aber stellte sich weitere Fragen. Warum war sie zum Beispiel im Dunkeln allein durch den Park gegangen? Wollte sie, dass etwas passierte? Ganz bestimmt war es kein feministischer Akt gewesen. Wenn Frauen darauf aufmerksam machen wollten, dass sie das Recht hatten, sicher durch die Straßen und Parks zu gehen, dann taten sie dies in großen Gruppen und mit viel öffentlichem Rummel - auf die vernünftige Weise. Doch Kirsten war häufig allein gegangen. Warum? Hatte sie tatsächlich das Böse gesucht?
Eine simple Kausalitätskette reichte nicht aus, um zu erklären, was ihr widerfahren war. Sie hatte seit dem Überfall einfach deshalb in einem Traum gelebt, weil sie ihn auf eine oberflächliche Weise akzeptiert hatte und nie wirklich über die tieferen Verflechtungen nachgedacht hatte. Und deshalb konnte man im Grunde überhaupt nicht von Akzeptanz sprechen. Die Wolke des Unbekannten, ihre letzten Gespräche mit Laura Henderson: Beides hatte ihrer Suche eine Form und Tiefe gegeben, die sie vorher niemals für möglich gehalten hätte; sie bündelten ihre Entschlossenheit und fungierten wie ein Magnet, der aus Eisenspänen ein Rosenmuster formt.
Alles bedeutete etwas - nichts passierte ohne Grund -, und je mehr sie darüber nachdachte, ob es einen Teil tief in ihr gab, der sie zu einem Opfer machte - genau wie der tief in dem Mann verwurzelte Hass ihn zum Mörder machte -, kam sie zu dem Schluss, dass der Mensch, der sie ausgewählt hatte, dazu bestimmt sein musste, ihr Erlöser zu sein. Er hatte sie nicht ohne Grund ausgewählt, wurde ihr jetzt klar. Sie war nicht wie die anderen gestorben; von diesem Los war sie befreit worden. Und in diesem Moment begann ihr das zwingende Konzept von Schicksal, Bestimmung und Vergeltung einzuleuchten. Wenn sie nicht aus blindem Zufall, sondern aus einem bestimmten Grund zum Opfer geworden war, dann war sie auch aus einem bestimmten Grund noch am Leben. Sie trug ihre Stigmata aus einem bestimmten Grund. Sie hatte die Mittel zur Zerstörung dieser bösen Kraft in sich. In gewisser Weise war sie seine Nemesis. Und das war ebenso Schicksal.
Von diesen Überlegungen erzählte sie Laura nie etwas; wie das wahre Wesen der Wolke oder Blase in ihrem Kopf wäre es zu schwer in Worte zu fassen gewesen. Außerdem war sie sich anfänglich nicht ganz sicher. Es trat nicht als vollständig ausgebrütete Theorie hervor, so wie Pallas Athene aus dem Kopf von Zeus sprang - die Ideen nahmen erst über längere Zeit hinweg Gestalt an.
In den Frühlingsmonaten Mai und Juni dachte sie viel darüber nach, während sie zwischen der Lektüre von Julian von Norwichs Offenbarungen der göttlichen Liebe alte Romane wiederlas und überlegte, an welcher Universität sie sich einschreiben und auf welche Studiengebiete sie sich konzentrieren sollte. Wahrscheinlich war es das Beste, sich in mehreren Orten einzuschreiben - im Norden, wo sie eine Wohnung mit Sarah teilen könnte, wie ihre Freundin vorgeschlagen hatte, und in Bath und Bristol, wo sie auf Wunsch der Eltern hingehen sollte. Dann könnte sie, wenn es so weit war, schauen, wie sie sich fühlte, und ihre Entscheidung treffen.
Anfang Juni forderte der Mörder, der Mann, den die Presse mittlerweile »Studentinnen-Schlitzer« nannte, ein weiteres Opfer: Kim Waterford, eine zierliche Brünette mit einem Schalk in den Augen, den selbst das qualitativ schlechte Zeitungsfoto nicht trüben konnte. Er hatte ihn jetzt getrübt, nicht wahr? Nun würden ihre Augen für immer trüb und leblos sein wie die eines toten Fisches.
Kirsten klebte das Bild und die Artikel in ihr Album und arbeitete noch härter an der Selbsthypnose.
Eines herrlichen Tages Ende Juni, als Bath wieder mit Touristen bevölkert war und die Bootsfahrer draußen vor dem halb geöffneten Fenster auf dem Avon planschten und lachten, lächelte Laura
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