Das stumme Lied
am Ende der Sitzung, bot Kirsten eine Zigarette an und sagte: »Ich glaube, wir beide sind miteinander so weit gegangen, wie wir können. Wenn Sie mich brauchen, werde ich da sein. Zögern Sie nicht, mich anzurufen. Aber ich glaube, dass Sie nun wirklich allein zurechtkommen, meine Liebe.«
Kirsten nickte. Sie wusste, dass es so war.
* 43
Susan
Mit ihrer Reisetasche in der Tragetüte kehrte Sue am Nachmittag in die Einkaufszone zurück und investierte ein paar Pfund ihrer schnell dahinschwindenden Mittel in eine dunkelgraue Hose von Marks & Spencer und eine blaue Windjacke mit Reißverschluss. Vor dem Toilettenspiegel kümmerte sie sich ausgiebig um ihr Make-up, betonte es an manchen Stellen anders, und stellte fest, dass sie ihre Perücke zu einem Pferdeschwanz zurückbinden konnte, ohne dass man ihr eigenes Haar sah. Ihre Brille passte ebenfalls gut zu ihrem neuen Outfit. Nun hatte sie ihr Äußeres ausreichend verändert, um keine Erinnerung bei denen zu wecken, denen vielleicht ihre geisterhafte Erscheinung aufgefallen war. Sie war nicht mehr die schlichte, sittsam gekleidete »nette junge Frau« im Regenmantel und sie war auch nicht mehr das kurzhaarige knabenhafte Mädchen in Jeans und einem karierten Hemd. Sie sah nun eher aus, als würde sie mit der Familie Urlaub machen und sich ein wenig Erholung von der Gesellschaft der Eltern gönnen. Außerdem war die neue Kleidung geeigneter dafür, sich im Wald aufzuhalten und die Fabrik zu beobachten, falls es dazu kommen sollte.
Die Reisetasche begann sie allmählich zu stören. Nachdem sie zu Saltwick Nab gegangen war, musste sie feststellen, dass die Flut hereinkam und die Strömung nicht aufs Meer hinausführte. Sie würde am Abend zurückkehren müssen, vielleicht wäre es jedoch auch einfacher, die Tasche von der West Cliff oder einer anderen Stelle in der Nähe zu werfen. Dort würden sich allerdings zu viele Leute aufhalten, so dass sie gesehen werden könnte. Sie steckte den Regenmantel und alles Weitere in die Tasche und brachte sie zurück in ihr Zimmer. Immerhin erwies sie sich jetzt als nützlich, wo sie mehr Sachen loswerden musste.
Sie dachte auch viel an Keith. Er lag mit Schläuchen und Nadeln im Körper in diesem Krankenhaus in Scarborough, wie sie vor über einem Jahr dagelegen hatte. Die Idee, zu ihm zu gehen, hatte sie aufgegeben - die Sicherheitsvorkehrungen würden zu streng sein, außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihr Vorhaben kaltblütig durchführen könnte, doch von ihren Sorgen konnte sie sich nicht lösen. Vielleicht suchte die Polizei sie genau in diesem Moment. Ein weiterer Grund, sich zu beeilen.
Um Viertel vor fünf ging sie in Rose's Café. Das Interesse der strähnigen Blonden hinter dem Tresen beschränkte sich aufs Geld. Sue musste eine Vorstellung von den Arbeitszeiten des Mannes bekommen. Wann konnte sie damit rechnen, ihn allein im Dunkeln auf der Straße zu sehen? Wann machte er seine Lieferungen? Wann schlief er? Sie nahm an, dass er gestern entweder eine Vormittagstour gehabt hatte oder bereits am Abend davor losgefahren und über Nacht geblieben war. Wenn Letzteres zutraf, bestand die Möglichkeit, dass er heute Abend zu Hause war. Es ärgerte sie, dass sie es nicht mit Gewissheit herausbekommen konnte. Jemanden zu fragen war unmöglich. Ohne Zweifel arbeiteten die Fahrer zu sehr unregelmäßigen Zeiten, übernahmen die Lieferungen, wenn sie fertig waren, und vertraten Kollegen, die krank waren oder schon zu lange unterwegs. Sie konnte im Grunde nur etwas länger auf ihrem Beobachtungsposten bleiben, und dabei wusste sie nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb.
Während der nächsten beiden Tage wurde das Wetter, obwohl anhaltend kühl, allmählich besser. Sue hielt sich weiterhin fast ständig in der Umgebung der Fabrik auf. Die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl, sie würde mit einem Auge nach der Polizei Ausschau halten, wo doch eigentlich sie diejenige sein sollte, die beobachtete. Jeden Morgen las sie die Zeitungen, doch wurde darin weder über eine Veränderung von Keiths Zustand noch über einen Fortschritt der polizeilichen Ermittlungen berichtet. Obwohl sie nach wie vor manchmal nervös und paranoid war, schöpfte sie in gewisser Weise Mut daraus, dass noch nichts geschehen war. Bestimmt war die Polizei in eine Sackgasse geraten, sonst wäre sie ihr doch schon längst auf den Fersen, oder? Jetzt konnte sie nichts mehr aufhalten. Sie sollte Erfolg haben. Ihre Aufgabe
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