Das stumme Lied
finden, um der Wolke ihre Geheimnisse zu entlocken. Das war ihr Hauptproblem. Ohne Lauras Hypnotherapie konnte sie keinen Zugang zu ihren zensierten Erinnerungen finden. Sie kaufte ein Buch über Selbsthypnose und praktizierte diese mit einigem Erfolg. Sie konnte sich recht leicht entspannen und eine leichte Trance hervorrufen, doch schaffte sie es nicht, jenseits des fischigen Gestanks zu gelangen. Trotzdem wollte sie damit fortfahren, bis sie die Wolke aufgelöst hatte.
Von Ende Februar bis in den April hinein fand sie ein wenig Zuspruch in Die Wolke des Unbekannten, dem Meisterwerk des christlichen Mystizismus aus dem vierzehnten Jahrhundert, das sie aus dem Regal gezogen hatte, um sich wieder auf das Studium einzustellen. Obwohl Kirsten stark bezweifelte, dass sie das Buch so las, wie es dem Autor vorgeschwebt hatte. Die Worte schienen ihr eigenes Problem auf eine erstaunlich direkte Weise anzusprechen und die Ironie dessen blieb ihr nicht verborgen:
Wenn du beginnst, findest du nur Finsternis, und diese Finsternis ist die Wolke des Unbekannten. Du weißt nicht, was dies bedeutet, du verspürst lediglich die feste, unerschütterliche Absicht, nach Gott zu greifen. Was auch immer du tust, diese Finsternis, diese Wolke bleibt zwischen dir und Gott, sie hält dich sowohl davon ab, ihn im klaren Lichte des Verstehens zu sehen, als auch davon, seine Güte in deiner Zuneigung zu erfahren. Finde dich damit ab, in dieser Finsternis so lange wie nötig zu verharren, doch höre nicht auf, nach ihm, den du liebst, zu verlangen.
Es war eine Art Umkehrung dessen, was Kirsten fühlte - mit Sicherheit suchte sie nicht nach Gott, noch liebte sie das Objekt ihrer Suche -, dennoch gaben ihr die Worte Nahrung und halfen ihr durch die Dunkelheit, sowohl durch die innere wie durch die äußere.
Zudem half das Buch zu beschreiben, was sie durchmachte, auf eine Weise, die nicht einmal Laura Henderson gefunden hatte:
Glaube nicht, dass das, was ich »Finsternis« oder »Wolke« genannt habe, die gleiche Wolke ist, die du am Himmel sehen kannst, oder die gleiche Finsternis, die du kennst, wenn zu Hause die Kerzen gelöscht sind ... Mit »Finsternis« meine ich »einen Mangel an Wissen« - genauso wie alles, was du nicht weißt oder vielleicht vergessen hast, dir manchmal »finster« erscheint, weil du es nicht mit deinem inneren Auge sehen kannst.
Das traf genau auf die dunkle Blase oder Wolke zu, die sie in ihrem Kopf spürte. Sie stand zwischen ihr und dem Teufel, dem Mann, der sie verstümmelt hatte, und sie war nicht so sehr ein Objekt oder ein Element, sondern ein Gefühl von etwas Undurchdringlichem, das tief in ihrem Kopf verankert war.
Das Werk bot auch durchaus praktische Ratschläge an, und Kirsten begann sich zu fragen, wie sie so lange ohne das Buch durchgehalten hatte. Besonders ohne die fünfte Meditation, die lautete:
Wenn du jemals zu dieser Wolke gelangst und in ihr lebst und arbeitest, wie ich es vorschlage, dann musst du, so wie die Wolke des Unbekannten über dir ist und zwischen dir und Gott, eine Wolke des Vergessens zwischen dich und alle Schöpfung stellen. Wir neigen zu der Auffassung, wir wären sehr weit von Gott entfernt, weil diese Wolke des Unbekannten zwischen uns und ihm ist, doch ist es in Wahrheit so, dass wir viel weiter von ihm entfernt wären, wenn es keine Wolke des Vergessens zwischen uns und der erschaffenen Welt gäbe.
Kirsten musste sich von der alltäglichen Welt distanzieren und ablösen, wenn sie ihr Ziel bis zum Ende verfolgen wollte. Es brachte nichts, an den sentimentalen Vorstellungen von Gut und Böse festzuhalten. Sie musste lernen, in einer losgelösten, exklusiven Welt zu leben, in der das Objekt ihrer Suche höchste Priorität besaß und alles und jeder andere für die Dauer der Mission in einer Wolke des Vergessens verschwunden war. Doch niemand durfte davon wissen. Sie musste für Freunde und Familie den Anschein erwecken, Fortschritte zu machen.
Das Buch war in fünfundsiebzig kurze, durchnummerierte Kapitel oder Meditationen unterteilt und auf eine Art geschrieben, dass man es nicht lange ohne Unterbrechung lesen konnte. Kirsten las ein Kapitel pro Tag, ließ gelegentlich einen Tag aus, um einen Roman zu lesen, und dehnte die Lektüre auf diese Weise über zwei Monate aus, während der Winter in den Frühling überging.
Bald wuchsen wieder Hyazinthen und Vergissmeinnicht im Wald, und auf den Feldern blühten Löwenzahn und
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