Das stumme Lied
grauenhaft. Ein solches Leben konnte es niemals geben, durfte es niemals geben. Ohne ihm den wahren Grund zu nennen, würde sie Galen zu seinem Besten aus ihrem Leben drängen müssen.
Die Depression lastete auf ihr, breitete sich in ihr aus, eine Art betäubender Fatalismus, der kein Licht zuließ, keinen Trost. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es jemals aufhörte, dass alles wieder zur Normalität zurückkehrte. Die sorglose, fröhliche Hochschulabsolventin, die aus dem Oastier-Wohnheim gekommen war, die warme Luft genossen und den Nachthimmel nach dem Mond abgesucht hatte, während sie auf dem steinernen Löwen gesessen hatte, war verschwunden. Völlig. Unwiederbringlich.
Aber wer oder was würde ihren Platz einnehmen?, fragte sich Kirsten. Sie spürte dunkle und verstörende Kräfte in sich rumoren, wie huschende Schatten an Orten, die so tief und finster waren, dass sie nichts von ihrer Existenz gewusst hatte. Und sie fühlte sich machtlos, etwas gegen diese Kräfte zu unternehmen, genauso machtlos wie in dem Moment, als Galen sie halten wollte und sie erstarrt war. Sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.
Im Grunde war es sogar noch schlimmer. Sie wusste, dass sie gerade so viel von sich kontrollierte, um die beruhigende Illusion aufrechtzuerhalten, sich im Griff zu haben. Bestenfalls konnte sie, wie die meisten Menschen, bestimmte Aspekte ihres Verhaltens kontrollieren. Vor allem war es eine Frage der Manieren, wie am Essenstisch nicht zu rülpsen. Doch ihre Verhaltensweisen und Eigenheiten konnten sich nicht dramatisch verändern, es sei denn, sie unternahm eine große Willensanstrengung, um sie abzuwandeln. Mit Sicherheit würde sie nicht eines Morgens aufwachen und nicht mehr in Stresssituationen ihre Nägel kauen oder nicht mehr erröten, wenn sie zufällig hörte, wie jemand über sie sprach. Genauso wenig wie Galen etwas dagegen tun konnte, dass seine Schultern herabhingen, wenn er nicht bekam, was er wollte, oder wie Sarah ändern konnte, dass sie mit trügerischer Ruhe auf ihre Unterlippe biss, bevor sie heftig auf eine Bemerkung reagierte, die sie beleidigt hatte.
Und dennoch war genau das anscheinend gerade passiert. So wie Kirsten reagiert hatte, als Galen auf sie zugekommen war - ehe sie überhaupt Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken -, hatte sie noch nie reagiert. Für gewöhnlich hatte sie die Umarmung eines Freundes oder geliebten Menschen erwidert. Aber dieser Teil von ihr - vielleicht der Teil, der auf Zuneigung und Liebe reagierte - war jetzt verschwunden oder hatte sich verändert. Sie erkannte sich nicht mehr wieder.
Den Ärzten würde es ähnlich sehen, dachte sie, wenn sie diese Veränderung darauf zurückführten, was ihr geschehen war. Das ist, würden sie sagen, als hätte man heiße Kohlen berührt. Beim nächsten Mal zuckt man zurück, kaum dass man sich welchen nähert. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. Konditionierung. Wie der Pawlow'sche Hund. Selbstverständlich wird jede Frau, würden sie fortfahren, die einen solch brutalen Überfall erlitten und überlebt hat, mit Misstrauen reagieren, wenn sich ihr ein anderer Mann, egal wie vertraut er ihr ist, auf intime Weise nähert.
Vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht würde es mit der Zeit vergehen. Tiere und Menschen, die es gewohnt sind, schlecht behandelt zu werden, gehen häufig erst einmal zum Angriff über, wenn ihnen schließlich jemand mit Liebe begegnet. Mit der Zeit jedoch lernen sie diese zu akzeptieren und vertrauen denen, die ihnen diese Liebe entgegenbringen. Bestimmt könnte doch auch sie die richtigen Reaktionen wiedererlernen, oder? Aber Kirsten war nicht überzeugt davon. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, dass diese neue instinktive und verängstigte Reaktion auf die Sorge ihres Freundes erst der Anfang war, dass sich noch andere Veränderungen entwickelten, dass andere Mächte tätig waren, und dass sie über keine von diesen Kontrolle hatte.
Was würde aus ihr werden? Sie konnte nur abwarten. Und selbst dann würde sie wahrscheinlich kein bisschen klüger sein, dachte sie, da sie bis dahin ihr altes Ich abgeworfen und nichts mehr haben würde, womit sie das neue vergleichen konnte. Kann sich ein Schmetterling an die Raupe erinnern, die er einmal gewesen war?
* 17
Martha
Fürs Abendessen fand Martha eine Pizzeria. Merkwürdig, anstatt Schmetterlinge im Bauch zu haben, machte die Nervosität sie hungrig. Im Erdgeschoss bereiteten geschäftige
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