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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Krachen und Fauchen der Wellen war alles ruhig am Strand. Wie ein Geist schlüpfte Martha aus der Höhle ins Mondlicht und machte sich auf den Weg zurück in die Pension.
     
     

* 20
    Kirsten
     
    »Sie müssen darauf gefasst sein, dass Sie hin und wieder etwas Schmerzen haben«, erklärte Dr. Craven und schrieb mit einem schwarzen Filzstift auf ihren Rezeptblock. »Traumatische Verletzungen verursachen häufig heftige Schmerzen. Aber keine Sorge, das wird nicht immer so bleiben. Ich verschreibe Ihnen ein Analgetikum. Das müsste helfen.« Sie lehnte sich zurück und reichte Kirsten den Zettel.
      Hinter der Ärztin, einer strengen Frau Anfang vierzig mit äußerst kurz geschnittenen, grauen Haaren, stechend blauen Augen und einer Hakennase, konnte Kirsten die kleine normannische Kirche und den Dorfplatz mit den zwei prächtigen Rotbuchen, den Rosenbeeten, kleinen weißen Zäunen und Bänken sehen, auf denen alte Leute saßen und tratschten. Durch das geöffnete Fenster hörte sie sogar die Finken und Meisen zwitschern. Brierley Coombe. Zu Hause.
      Am vergangenen Abend war es ihr gelungen, die Schmerzen vor ihren Eltern zu verbergen. Sie hatte einfach behauptet, nach der Reise müde zu sein, dann vier Aspirin und ein langes, heißes Bad genommen, bevor sie zu Bett gegangen war. Die Schmerzen hatten nachgelassen und sie seit dem Überfall tatsächlich zum ersten Mal wieder gut schlafen lassen.
      Dr. Craven beugte sich vor und tippte auf einen blauen Ordner. Das Stethoskop um ihren Hals schwang nach vorn gegen die Schreibtischkante. »Ich habe Ihre Krankenakte bekommen, Kirsten«, sagte sie, »außerdem habe ich mit Dr. Masterson im Krankenhaus telefoniert. Wenn Ihnen irgendetwas zu schaffen macht, dann scheuen Sie bitte nicht davor zurück, zu mir zu kommen. Und unabhängig davon möchte ich gerne, dass Sie einmal in der Woche vorbeischauen, damit ich sehen kann, wie es Ihnen geht. In Ordnung?«
      Kirsten nickte. Dr. Masterson? Sie hatte nicht einmal seinen Namen gekannt, den Namen des Mannes, der ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Auf jeden Fall war er einer ihrer Wohltäter. Den Namen der Person, die glücklicherweise in der Nacht des Überfalles ihren Hund ausgeführt hatte, kannte sie ebenfalls nicht. Aber Dr. Masterson? Sie erinnerte sich an seine dunkle Hautfarbe und seine zerfurchte Stirn und daran, wie er immer grimmig ausgesehen, aber schüchtern und freundlich gewesen war. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie sich sogar Geschichten über ihn ausgedacht. Sein Vater muss ein Armeeoffizier gewesen sein, der in Indien diente, hatte sie beschlossen - höchstwahrscheinlich ein Captain der Sanitäter -, und er hatte eine indische Frau aus einer hohen Kaste geheiratet. Nach der Unabhängigkeit waren sie nach England gezogen ...
      Die Leichtigkeit, mit der sie ohne viel Anhaltspunkte Geschichten über Menschen erfinden konnte, hatte sie immer überrascht. Es war eine Fähigkeit - oder ein Fluch -, über die sie seit ihrer frühesten Kindheit verfügte, als sie ganze Hefte mit Strichmännchen und Familiengeschichten erfundener Charaktere gefüllt hatte. Wenn sie für andere ein Leben erfinden konnte, dachte sie, dann konnte sie wahrscheinlich das Gleiche für sich selbst tun. Das wäre auf jeden Fall besser, als jedem, den sie kennen lernte, die Wahrheit zu erzählen. Auf ihrem Weg in die Arztpraxis an diesem Morgen waren ihr bereits Nachbarn aufgefallen, die sie mit mitleidigem Blick bedacht hatten. Noch schlimmer aber war, dass eine von ihnen - Carrie Linton, eine hochnäsige Frau, die in alles ihre Nase steckte und die Kirsten noch nie hatte leiden können - sie mit einem anderen Blick angesehen hatte: eher anklagend als mitleidig.
      »Kirsten?«
      »Was? Oh, entschuldigen Sie. Ich habe wohl geträumt.«
      »Ich sagte, Sie sollen darauf achten, gut zu essen und sich oft und ausgiebig auszuruhen. Der Heilungsprozess verläuft bisher sehr gut, sonst hätte Dr. Masterson Sie auch noch nicht nach Hause gelassen, aber Sie sind noch immer im Stadium der Rekonvaleszenz, vergessen Sie das nicht.«
      »Natürlich nicht.«
      »Und wenn Sie Probleme haben, sich auf Ihren Zustand einzustellen, kann ich Ihnen einen sehr guten Doktor in Bath empfehlen, eine Fachkraft.«
      Einstellen? Zustand? Großer Gott, dachte Kirsten, das klingt, als wäre ich schwanger oder sonst was.
      »Ich meine psychologisch und emotional«, fuhr Dr. Craven fort, wobei ihre Blicke auf das Diagramm des

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