Das stumme Lied
menschlichen Kreislaufsystems an der Wand gerichtet waren. »Es könnte ein beschwerlicher Weg werden, wissen Sie.«
»Ein Psychiater?«
Dr. Craven klopfte mit ihrem Stift auf den Tisch. »Nur wenn Sie es für notwendig erachten. Psychiater können eine Hilfe sein. Das ist heutzutage nicht mehr negativ behaftet, besonders ...«
Es ist ihr peinlich, dachte Kirsten. Genau wie allen anderen. Sie wissen nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. »In Fällen wie meinen?«, bot sie als Satzende an.
»Äh, ja.« Dr. Craven schien die Ironie in Kirstens Stimme überhört zu haben. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem kurzen Lächeln, was selten vorkam. »Sie sind ziemlich einzigartig, müssen Sie wissen. Wenn überhaupt haben nur sehr wenige Frauen den Angriff eines solchen Verrückten überlebt.«
»Wahrscheinlich«, sagte Kirsten langsam. »So habe ich das noch gar nicht gesehen. Meinen Sie einen wie Jack the Ripper? Hat den jemand überlebt?«
»Das weiß ich leider nicht. Kriminologie ist nicht meine Stärke.« Sie beugte sich vor. »Was ich sagen will, Kirsten, ist, dass daraus einige emotionale Traumata resultieren können. Ich möchte Ihnen nur klar machen, dass es in solchen Fällen Hilfe gibt. Sie müssen nur darum bitten.«
»Danke.«
Die Ärztin lehnte sich wieder zurück und schaute Kirsten über die Gläser ihrer Lesebrille an. »Wie fühlen Sie sich denn wirklich?«
»Fühlen? Gar nicht so schlecht. Die Schmerzen haben ein bisschen nachgelassen.«
»Nein, ich meine emotional. Was fühlen Sie?«
»Was ich fühle? Ich weiß es wirklich nicht. Nur eine Leere, eine Taubheit. Ich kann mich überhaupt nicht an den Überfall erinnern.«
»Gehen Sie die Ereignisse noch im Geiste durch?«
»Ja, aber ich kann mich immer noch an nichts erinnern. Manchmal hält es mich wach. Ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Ich kann nicht einmal dasitzen und ein Buch lesen. Früher habe ich liebend gerne gelesen.«
»Die Amnesie ist möglicherweise nur zeitweilig.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt erinnern will.«
»Das ist allzu verständlich. Genau wie alle Ihre Gefühle. Sie haben einen gewaltigen Schock erlitten, Kirsten. Nicht nur für Ihren Körper, sondern für Ihr gesamtes Wesen. All Ihre Symptome - emotionale Taubheit, schlechte Träume, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren - sind angesichts der Umstände vollkommen normal. Furchtbar, aber normal. Tatsächlich würde ich mir Sorgen machen, wenn Sie sich nicht so fühlen würden. Fühlen Sie keine Wut, keinen Zorn?«
»Nein. Sollte ich?«
»Das wird noch kommen.«
»Ich habe schon das Gefühl, dass ich ihn gerne umbringen würde, den Mann, der mir das angetan hat, aber das ist eher ein kaltes als ein zorniges Gefühl, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber ich werde wohl kaum die Gelegenheit dazu kriegen, oder? Ich würde ihn ja gar nicht erkennen.«
»Nein. Aber hoffen wir, dass die Polizei ihn bald findet.«
»Bevor er eine andere überfallen kann?«
»Solche Menschen hören normalerweise nicht nach einem Mal auf. Und das nächste Opfer hat vielleicht nicht so viel Glück.« Dr. Craven stand auf und streckte ihre Hand aus. »Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe. Geben Sie gut auf sich Acht, ich sehe Sie dann nächste Woche.« Kirsten schüttelte ihre Hand und ging.
Draußen strahlte die Sonne von einem klaren, blauen Himmel. Die sanften Hügel, zwischen denen das Dorf lag, schienen durch eine Art inneres Licht hellgrün zu glühen, so als würden sie den Hintergrund für das Gemälde eines Malers bilden. Kirsten steckte die Hände in die Taschen und schlenderte die High Street entlang. Viel los war hier wirklich nicht: ein Pub, die Gemeindehalle (ein Bau von 1852, das jüngste Gebäude in Brierley Coombe), ein paar Läden (die meisten waren umgebaute Cottages) - die Post, ein Lebensmittelhändler, der Metzger, der Apotheker, der Zeitungsladen.
Das Dorf lag am Rande der Mendips, zwischen Bath und Wells, und hatte eine beträchtliche Anzahl Reet-dächer und preisgekrönter Gärten. Friedliche Auswüchse von Rosen, Petunien, Efeu, Malven und Kressen bedrängten Kirstens Sinne, während sie an den gepflegten Zäunen entlangging. Der Ort hatte sie immer an diese Postkartendörfer aus britischen Kriminalromanen erinnert - an Miss Marples St. Mary Mead zum Beispiel -, wo jeder wusste, wo er hingehörte, und sich
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