Das stumme Lied
langer Weg werden, dachte Kirsten, der plötzlich ein Angstschauer durch die Knochen fuhr. Überhaupt würde es alles andere als leicht werden.
* 21
Martha
Die Möwen waren grotesk verzerrt und keine geschmeidigen, weißen, scharfgesichtigen Vögel mehr. Ihr Gefieder war aschgrau gesprenkelt und ihre Leiber waren fast bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen. Sie konnten kaum stehen. Ihre dürren Beine über den Füßen mit Schwimmhäuten, die so gelb wie Eidotter waren, konnten ihre aufgeblähten Bäuche nicht tragen, die so straff gespannt waren, dass zwischen den grauen und weißen Flecken ein Muster aus blauen Venen hervorstach. Ihre Flügel quietschten und schlugen wie alte, von Motten zerfressene Markisen im Sturm, wenn sie zu fliegen versuchten.
Doch vor allem ihre Gesichter waren anders. Sie hatten zwar immer noch Möwenaugen - kalte, dunkle Löcher, die weder Gnade noch Mitleid kannten -, aber ihre Schnäbel waren mit langen, wabbeligen und blutverschmierten Schnauzen verkleidet.
Sie klangen immer noch wie Möwen. Auch wenn sie nicht mehr fliegen konnten, watschelten sie über den dunklen Sand und klagten wie die Geister von Millionen gequälter Seelen.
Martha erwachte schweißgebadet in der frühen Dämmerung. Draußen kreischten und kreisten die Möwen. Sie mussten schon eine Weile unterwegs sein, dachte sie, während sich ihr Herzschlag beruhigte. Sie musste sie im Schlaf gehört haben und unterbewusst war das Gezeter in die Bildersprache des Traumes übertragen worden. Wie man davon träumte, eine Toilette zu suchen, wenn man etwas zu viel getrunken hatte und der Körper einen aufzuwecken versuchte, bevor die Blase platzt.
Allein der Gedanke an Feuchtigkeit machte Martha durstig. Sie stand auf und trank ein Glas Wasser, kroch dann wieder ins Bett und hatte noch immer den säuerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund. Unfähig, gleich wieder einzuschlafen, sah sie die Möwen in Gedanken plötzlich als Verbündete. Sie konnte sie mit ihren scharfen, gebogenen Schnäbeln vor sich sehen, wie sie an der Leiche in der Höhle pickten und zerrten, einen Augapfel losrissen oder ein Ohr zum Bluten brachten. Hörten sie denn niemals auf? Für sie war das Leben anscheinend nicht mehr als ein langes, ausgedehntes Gelage, für das man losgehen und sein Futter fangen und es in Stücke reißen musste, solange es noch am Leben war. War sie wie die Möwen geworden?
Martha schaute auf ihre Uhr: 6:29 Uhr. Für diesen Tag, erinnerte sie sich, war als Zeit für die Flut 06:58 auf die Tafel eingetragen worden, die Möwen konnten die Leiche also nicht gefunden haben, es sei denn, sie trieb auf der Wasseroberfläche. Die kalte Nordsee würde bereits ihre Zunge in die Höhle gesteckt und Jack Grimleys Leiche ins Innere ihrer Wogen gespült haben.
Zitternd vor Entsetzen über das, was sie getan hatte, drehte sich Martha auf die Seite, zog die Decke bis zum Kinn und driftete mit dem Briefbeschwerer in der Hand und der wilden, in ihren Ohren widerhallenden Musik der zeternden Möwen zurück in einen unruhigen Schlaf.
* 22
Kirsten
In dieser Nacht kehrten sie zurück, die Träume vom Schneiden und Stechen, um in Kirstens Kinderzimmer einzudringen. Der weiße Ritter und der schwarze Ritter, wie sie die beiden mittlerweile genannt hatte, beide ohne Gesichter. Dieses Mal schienen sie ihr etwas beibringen zu wollen. Der schwarze Ritter reichte ihr ein langes Messer mit Elfenbeingriff und sie stieß es selbst in das weiche Fleisch ihres Oberschenkels. Es drang ein wie in Wachs. Etwas Blut quoll über die Ränder des Schnittes, aber nicht viel. Langsam zog sie die Klinge heraus und beobachtete, dass sich die Kanten der aufgerissenen Haut wieder zusammenzogen wie sich schließende Lippen. Eine rosa Blase schwoll an und platzte. Und während der ganzen Zeit spürte sie nichts. Überhaupt nichts. Irgendwie wusste sie, dass der gesichtslose weiße Ritter mit einem Lächeln auf sie herabschaute.
* 23
Martha
Die toten Fische starrten Martha mit glasigen, öligen Augen an. Rosarotes Blut befleckte ihre Kiemen und Mäuler, während das Sonnenlicht auf ihren silbrigen Schuppen und blassen Bäuchen glitzerte. Der strenge Fischgeruch überdeckte selbst die frische Seeluft. Urlauber, die die St. Ann's Staith entlangspazierten, blieben stehen und machten Fotos von den Fischauslagen. Die Verkäufer, die es mit Sicherheit gewohnt waren, als Fotomotive für die Touristen herzuhalten,
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