Das stumme Lied
nie etwas veränderte. Nur dass in Brierley Coombe nie jemand ermordert worden war.
Kirsten nahm das Rezept aus ihrer Tasche und ging in die Apotheke. Es war nur ein kleiner Laden, eher dekorativ als funktional, und eine der wenigen Apotheken, in denen noch diese riesigen roten, grünen und blauen Flaschen auf einem Regalbrett hoch über dem Fenster standen. Das Sonnenlicht schien durch die Gläser auf Mr Hayes' faltiges Gesicht. Kirsten wusste, dass er gute Medikamente führte, besonders für Frauenbeschwerden.
»Hallo, Kirsten«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich habe schon gehört, dass du zurückgekommen bist. Das mit deinen Schwierigkeiten tut mir Leid.«
»Danke«, sagte Kirsten. Sie hoffte, dass er nicht fortfuhr und ihr erzählte, dass man heutzutage nicht vorsichtig genug sein könne. Er war diese Sorte Mann. Aber vielleicht hatte ihn etwas in ihrer Stimme oder ihrem Gesichtsausdruck aus dem Konzept gebracht. Auf jeden Fall sah er sie nur verdutzt an und ging sofort los, um ihre Medikamente zu holen.
Mit dem Schmerzmittel in der Tasche machte sich Kirsten auf den Weg nach Hause. Ihre Familie war von Bath hierher gezogen, als sie sechs Jahre alt war, seither war sie in Brierley Coombe zu Hause. Obwohl das Dorf in gleicher Entfernung zu Bristol und Bath lag, waren sie zum Einkaufen und zur Unterhaltung immer nur nach Bath gefahren. Ihre Mutter betrachtete Bristol - eine große Stadt, einst ein wichtiger Hafen - als zu vulgär, infolgedessen war Kirsten erst zwei Mal in ihrem Leben dort gewesen. Ihr war die Stadt nicht so schlimm vorgekommen, aber das war mit dem Norden Englands nicht anders gewesen.
Kirsten hatte keine Freunde mehr in Brierley Coombe und in ihrem jetzigen Zustand empfand sie das als Segen. Das Letzte, was sie wollte, war, von einem zum anderen zu laufen und sich zu erklären. Eigentlich konnte sie sich kaum daran erinnern, hier jemals Freunde gehabt oder gar junge Menschen gesehen zu haben. Das war ein weiterer Grund, warum es einem Agatha-Christie-Dorf ähnelte - es gab keine Kinder und sie konnte sich auch an keine erinnern. Da sie selbst hier groß geworden war und mit anderen Kindern gespielt hatte, war das natürlich absurd, aber es gab keine Dorfschule, und sie konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, jemals Kinderstimmen auf dem Dorfplatz gehört zu haben. Über die Jahre waren sie alle abgewandert. Zuerst gingen sie natürlich zur Grundschule, dann, wie sie selbst, auf ein Internat, denn arme Leute gab es in Brierley Coombe nicht. Danach kam die Universität - normalerweise Oxford oder Cambridge - und eine Beschäftigung in der Stadt. Wenn sie ihre Elternhäuser geerbt hatten und zu Wohlstand gekommen waren oder pensioniert wurden, kehrten sie vielleicht zurück und verbrachten ihren Lebensabend damit, den Garten zu pflegen und Bridge zu spielen.
Die Friedlichkeit und die Ruhe, die Kirsten während der langen Sommer- und Osterferien zu Hause genossen hatte, war nach dem hektischen, geselligen Leben an der Universität immer genau das Richtige für sie gewesen. Sie war ein kluges und fleißiges Mädchen und hatte immer eine Menge Arbeit geschafft - andererseits ließ sie sich aber auch leicht durch einen guten Film, eine Party oder die Aussicht, mit Freunden zu trinken und zu plaudern, ablenken. Zu Hause hatte sie normalerweise ihre Arbeit aufholen und das nächste Semester vorbereiten können.
Was aber sollte sie nun mit ihrer Zeit anfangen? Ihr Studium war vorbei; ihr Leben hatte sich total geändert, wenn es nicht gar völlig zerstört war. Sie wusste nicht, ob sie es schaffen würde, die Scherben aufzusammeln, geschweige denn sie wieder zusammenzusetzen. Und im Grunde wusste sie gar nicht, ob irgendwelche Scherben übrig geblieben waren. Vielleicht interessierte sie es nicht einmal.
Sie dachte immer noch darüber nach, als sie die Gartenpforte öffnete und über den breiten Pfad zum Haus ging - eher eine Villa als ein Cottage. Ihre Mutter war im Garten und verunstaltete die Geißblätter mit einer Gartenschere. Gartenarbeit und Bridge, innerhalb dieser strengen Grenzen vollzog sich das Leben ihrer Mutter.
Als sie Kirsten kommen sah, wischte sie sich die Stirn ab, ließ die Schere sinken, die im Sonnenlicht aufblitzte, und hielt die freie Hand zum Schutz vor der Sonne über die Augen, um ihre Tochter zu betrachten. Ein angestrengtes Lächeln zwang ihre Mundwinkel nach oben, ohne ihre Augen zu erreichen. Diese Genesung würde ein
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