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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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einzelne Strahlen durch das Laub schossen und die Heidelbeerbüsche und die winzigen Vergissmeinnicht-Blüten am Bach beleuchteten, sodass sie aussahen wie ein Stillleben und nicht wie lebendige, wachsende Pflanzen.
      Doch heute spürte sie keine Begeisterung, als sie den gewundenen Pfad unter den hohen Bäumen entlangtrottete. Nachdem sie sich zwei Tage in ihrem Zimmer verkrochen hatte, hatte sie sich schließlich aufgerafft, nach draußen zu gehen - eher ihren Eltern als ihr selbst zuliebe. Ihr Vater sah mittlerweile noch abgespannter aus als sonst und ihre Mutter wurde immer ungeduldiger. Sie merkte, dass die beiden am Ende ihrer Weisheit waren. Sie wollten ihr sagen, dass sie ihre schlechte Laune überwinden, nicht länger Trübsal blasen und ihr Leben weiterleben sollte. Nur das Mitleid hielt sie davon ab. Sie tat ihren Eltern immer noch Leid, aber es war ein Kummer, dem sie keinen Ausdruck verleihen konnten. Sie war in den Wald gegangen, um Ruhe vor den beiden zu haben. Wenn sie nur so tat, als wäre alles in Ordnung, würden sie es ihr sofort abnehmen.
      Und es hatte funktioniert. Kaum war sie am vergangenen Abend heruntergekommen, hatte sich die Stimmung ihrer Eltern verbessert. Sie hatten ihr einen Drink angeboten und dann freundlich mit ihr ferngesehen. Am Morgen war ihr Vater, wenn auch ungern, wieder zur Arbeit gegangen, und ihre Mutter hatte gesagt, sie wolle zum Einkaufen nach Wells fahren, da Bath in der letzten Zeit unerträglich schäbig und touristisch geworden sei.
      Aber die Natur berührte Kirsten nicht. Während sie ging, kam ihr eine Passage aus Coleridges Ode der »Niedergeschlagenheit« in den Sinn:
    Ein Kummer leer, finster, trüb und ohne Schmerz.
    Ist ein unterdrückter, träger Kummer ohne Herz.
    Er findet keinen Trost, kann sich nicht befreien,
    Mit Tränen, Seufzern oder Schreien.
      Während sie die ins Licht getauchten Blumen betrachtete, konnte sie Coleridges Empfinden nacherleben, als er schrieb: »Ich sehe, aber fühle nicht, wie schön sie sind! ... Ich darf nicht hoffen, dass die Außenwelt für mich erweckt / Die Leidenschaft, das Leben, deren Quell nur in mir steckt.« Wie wahr, dachte Kirsten. Das Licht, das zwischen den Blättern tanzte, konnte ihr nichts mehr geben, ihr Lebensquell war versiegt, aufgesogen von dem dunklen Stern in ihrem Kopf und zu Blut geworden.
      Das Weitergehen machte keinen Sinn. Ungefähr auf halbem Wege ihrer üblichen Route kehrte sie um und ging zurück nach Hause. Es gab keinen besseren Zufluchtsort als ihr Zimmer, und da alle unterwegs waren, würde sie im Haus ihre Ruhe haben. Vielleicht würden die Leere und der Schmerz in ein paar Wochen verschwunden sein und sie würde wieder zurück zur Normalität finden. Allerdings konnte sie sich schon jetzt kaum daran erinnern, was die Normalität war.
      Zwei schwarzweiße Kühe beobachteten sie mit ihren großen, traurigen Augen, als sie die schmale Wiese zwischen dem Wald und der hinteren Pforte des Grundstückes überquerte. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen und plötzlich wurde die Depression schlimmer als zuvor.
      Zurück im Haus, ging sie eine Weile ziellos von Zimmer zu Zimmer, spielte mit dem Gedanken, sich ein Sandwich zu machen, entschied dann aber, dass sie nicht hungrig war. Sich zu betrinken schien ihr im ersten Moment eine gute Idee zu sein, aber dann hatte sie eine noch bessere.
      Zuerst nahm sie eine Plastiktüte aus dem Schrank unter der Treppe, ging dann ins Badezimmer und öffnete das Arzneischränkchen. In ihm befanden sich die üblichen Dinge: Aspirin, Antihistaminika, Antacid-Tabletten, Erkältungskapseln, Hustensaft und eine alte Packung Antibiotika. Sie ließ nur den Hustensaft stehen und warf den Rest in die Tüte.
      In ihrem Zimmer öffnete sie die Umhängetasche und fand die Packung Analgetikum, die ihr die Ärztin gegen ihre Schmerzen verschrieben hatte. Es war dieselbe Tasche, die sie in der Nacht des Überfalls getragen hatte, und in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie sich bisher überhaupt nicht gefragt hatte, was damals mit ihr geschehen war. Wahrscheinlich hatte die Polizei die Tasche durchsucht und dann, als sie noch im Koma lag, in ihr Krankenhauszimmer gebracht. Als sie die Tasche auf ihrem Bett ausleerte, entdeckte sie ihre Antibabypillen, die noch für einen halben Monat reichten. Was für eine Ironie! Lächelnd warf sie auch diese Pillen in den Beutel und nahm ihn mit nach unten.
      Das Wohnzimmer war ein riesiger Raum, der sich in

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