Das stumme Lied
der Höhe bis in die zweite Etage erstreckte. Vorne war ein Erkerfenster, das hinaus auf den Rasen, die Geißblätter, die Rosenbeete und die High Street hinter dem Zaun zeigte; hinten führten Terrassentüren hinaus in den großen Garten, in dessen Zentrum eine Rotbuche stand und wo es weitere Blumenbeete und ein Kricketfeld gab. Dahinter begann der Wald. Kirsten öffnete die Fenster, um die Sonne hereinzulassen, und setzte sich auf den Teppich in die Sonnenstrahlen. Sie hatte eine Flasche vom besten Whisky ihres Vaters aus dem Cocktailschrank genommen - Glen-wo-bin-ich nannte er ihn immer - und stellte sie neben sich.
Sie nahm die Plastiktüte und schüttete die Pillensammlung vor sich auf den Teppich. Es gab sie in allen Farben des Regenbogens: blau, grün, rot, weiß, gelb, rosa, orange, violett. Dann ordnete sie eine hübsche Farbauswahl in ihrer Hand an, schluckte sie und spülte sie mit dem Scotch herunter, den sie direkt aus der Flasche trank.
Es war idyllisch, im Schneidersitz dort im honig-farbenen Sonnenlicht zu sitzen, während draußen vor dem Fenster die Bienen von Blume zu Blume summten. Kirsten hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und fühlte sich bald benommen und leicht - leicht trotz der dunklen Wolke, die wesentlich schwerer war, als man es von einem so kleinen Gegenstand vermuten würde. Jedenfalls war sie heute klein. Manchmal schwoll sie auf die Größe eines Luftballons an, doch heute war sie eine böse, schwarze Murmel. Wenn sie sie in der Hand halten würde, dachte sie, würde sie bei dem Gewicht wahrscheinlich sofort durch ihr Fleisch brechen.
Eine Rote, eine Blaue, eine Gelbe und einen Schluck brennenden Whisky. So ging es weiter; die Flasche wurde immer leerer und der Pillenhaufen auf dem hellbraunen Teppich verkleinerte sich von Mal zu Mal. Bald drehte sich alles in Kirstens Kopf. Lichttupfer tanzten hinter ihren geschlossenen Augen. Als sie die Augen öffnete und wieder hinaus in den sonnendurchfluteten Garten schaute, hätte sie schwören können, dass es draußen schneite.
* 27
Martha
Nachdem Martha gegen ein Uhr mittags an der Haltestelle nahe der Valley Bridge Road in Scarborough aus dem Bus gestiegen war, nahm sie als Erstes ein Schinken-Käse-Sandwich und ein halbes Pint Bitter mit Limone im nächsten Pub zu sich, einem ruhigen, heruntergekommenen Lokal mit klebrigen Tischen.
Mittlerweile hatte sie sich wieder einigermaßen beruhigt. Die Neuigkeiten hatten sie so sehr mitgenommen, dass sie fast aufgegeben hätte, letzten Endes hatten sie jedoch ihre Entschlossenheit gefestigt. Sie konnte nicht zurückgehen, ohne ihre Aufgabe an der Küste erledigt zu haben. Doch nun wusste sie, dass ihr kostbarer Instinkt nicht unfehlbar war, beim nächsten Mal brauchte sie mehr Sicherheit. Wie sie Beweise finden sollte, die über ihre Erinnerungen an das Äußere und die Stimme des Mannes hinausgingen, wusste sie noch nicht. Vielleicht würde sie ihn anlocken und mit dem Sachverhalt konfrontieren müssen. Als Grimley gesagt hatte, er würde sich nicht an sie erinnern, hatte er die Wahrheit gesagt. Der wahre Mörder würde sich höchstwahrscheinlich an sie erinnern, und wenn sie ihn dazu bringen könnte, es zuzugeben, würde sie sicher sein. Sie wollte ihren Weg nicht mit Leichen pflastern, bevor sie den Richtigen erwischte. Sie erschauderte bei dem Gedanken, zum gleichen Monster wie das zu werden, das sie zerstören wollte.
Sie drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Es war alles nicht mehr so einfach wie noch vor ein paar Tagen. Jetzt bestand die Möglichkeit, dass die Polizei Grimley bald identifiziert hatte und die Todesursache herausfand. Martha durfte sich nicht erwischen lassen. Sie war zwar bereits aus ihrem Zimmer in der Abbey Terrace ausgezogen, doch konnte sie noch ein paar andere Dinge tun, um ihre Freiheit zu bewahren, ehe sie nach Whitby zurückkehrte.
Sie ging am Bahnhof vorbei und bog dann nach rechts in die Westborough ab, wo sich anscheinend eine Menge Läden befanden. Mit dem Stadtplan, den sie in Whitby gekauft hatte, konnte sie sich einigermaßen orientieren, während sie die Seitenstraßen erforschte, doch die wichtigsten Einkaufszonen waren nicht eingezeichnet. Wie sie jedoch sah, war ihr Ziel nicht mehr weit. Das Wetter war genauso grau wie bei ihrer Abfahrt in Whitby, doch immerhin hatte es zu nieseln aufgehört und war so warm geworden, dass sie ihre Steppjacke ausziehen und über den Arm legen konnte.
Was sie
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