Das stumme Lied
oder irgendwo in der Nähe. Er war immer noch hier.
Sie trauerte um Jack Grimley und hätte alles getan, um ihre Tat rückgängig zu machen. Aber sie befand sich in einer Art Krieg, erinnerte sie sich, und im Krieg gab es keine unschuldigen Zuschauer. Grimley mochte ein guter Mensch gewesen sein, dennoch war er ein Mann gewesen. Für Martha waren alle Männer potenziell genauso wie derjenige, den sie suchte. Hätte er die Gelegenheit gehabt, hätte Grimley sie in eine dieser Höhlen geführt und versucht, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und ... Man durfte gar nicht daran denken. Männer waren alle gleich, jeder war ein Gewalttäter und Frauenmörder. Zweifellos war der Studentinnen-Schlitzer nach außen hin ein einfacher, respektierter Bürger. Vielleicht hatte er sogar Frau und Kinder. Doch das interessierte Martha nicht. Sie wollte ihn nur töten.
Warum reiste er so häufig ins Landesinnere? Lag es allein daran, dass dort die Universitäten waren, oder hatte es etwas mit seinem Beruf zu tun? Schließlich konnte sie nicht länger davon ausgehen, dass er ein Fischer war. Vielleicht war er ein Vertreter, der in Whitby wohnte. Das war, was sie jetzt tun musste - erneut nachdenken, erneut planen, erneut handeln. Sie durfte sich von einem Fehler nicht abschrecken lassen, wie fürchterlich er auch gewesen war. Sie war einfach übereifrig gewesen, zu selbstsicher, zu ungeduldig. Sie würde sich genauer auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrieren und ihren Intellekt mit ihrem Instinkt in Einklang bringen müssen. Also beginne mit dem Nachdenken, sagte sie sich. Er reist häufig ins Landesinnere. Warum? Das war immerhin etwas Konkretes, etwas, womit sie beginnen konnte.
»Möchten Sie noch etwas?«
»Was?«
Es war die Kellnerin, die den leeren Tisch neben ihr abräumte. »Noch einen Kaffee?«
»Ja, gerne.« Ihre letzte Tasse war ohnehin kalt geworden.
»Bleiben Sie nur sitzen, ich bringe ihn. Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus. Stimmt was nicht?«
Martha schüttelte den Kopf. »Danke. Nein, nein, nichts Ernstes.« Sie würde auf sich aufpassen müssen, merkte sie. Es konnte nicht angehen, dass sie durch die Stadt lief und unangenehm auffiel. Die Leute würden sich an sie erinnern.
Nachdem die Kellnerin den Kaffee gebracht hatte, kehrte Martha zu ihren Überlegungen zurück. Sie wusste, dass Superintendent Elswick und seine Untergebenen nur ihre Zeit verschwendeten, während sie versuchten, die Motive des Mörders herauszufinden und ein psychologisches Profil zu erstellen. Bisher hatte es sie jedenfalls nicht weit gebracht, oder? Ihr jedoch war die unglückliche Kindheit des Mannes oder die Zeit, die er gezwungen war, seine tote Großmutter zu küssen, scheißegal. Vielleicht hatte seine Mutter ihn weggegeben und war zur Universität gegangen. Möglicherweise überfiel er deshalb immer junge Studentinnen. Vielleicht hatte er eine Tochter, die durch das Studium verdorben worden war. Oder vielleicht dachte er einfach, Universitäten wären Lasterhöhlen, voller Schlampen und Nymphomaninnen, genau der richtige Ort, wo er mit aller Wahrscheinlichkeit freizügige Frauen finden konnte - und emanzipierte Frauen, die sorglos oder dumm genug waren, im Dunkeln allein nach Hause zu gehen. Aber das interessierte sie alles nicht. Wenn sie ihn gefunden hatte, wollte sie ihn nicht therapieren. Sie wollte ihn töten. So einfach war das.
Der Gedankenfluss munterte Martha auf. Es war der Beweis, dass ihr Gehirn wieder einwandfrei arbeitete und dass sie sich abhärten konnte. Wenn sie zurückschaute, was sie in der vergangenen Nacht getan hatte, ohne auf den grotesken Bildern herumzureiten, dann erkannte sie, dass es auch etwas Gutes hatte. Ihre Anstrengung war nicht ganz umsonst gewesen. Wenn sie es vom positiven Blickwinkel aus betrachtete, konnte sie den Mord an Grimley als eine Art Generalprobe für ihre wahre Aufgabe sehen. Das war vielleicht ein schrecklicher Gedanke, doch immerhin wusste sie jetzt, dass sie dazu in der Lage war. Der Mord an Grimley war zudem eine Art Initiation gewesen, eine Bluttaufe. Sie hatte ein Mal getötet, also konnte sie es auch wieder tun. Nur dass sie beim nächsten Mal die Sicherheit haben würde, es richtig zu machen, dachte sie und tastete nach dem Briefbeschwerer in ihrer Tasche.
* 26
Kirsten
Kirsten erinnerte sich, wie sie das Licht im Wald geliebt hatte, die grünen und silbernen Filamente, die in den Blättern tanzten, und wie
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