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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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dunkler als ihre natürliche Haarfarbe war. Außerdem musste sie länger sein und echt aussehen.
      »Kann ich Ihnen helfen, Madam?«, fragte eine Verkäuferin.
      »Ich schaue mich nur um.« Martha wollte nicht, dass ihr jemand beim Anprobieren der Perücken half und sie beriet. An so etwas könnte sich eine Verkäuferin erinnern. Glücklicherweise tauche eine andere Kundin auf, eine ältere Frau, der ganze Haarbüschel fehlten, als wäre sie einer Chemotherapie unterzogen worden, und die Verkäuferin kümmerte sich um sie. Zwischen den beiden begann sich eine Diskussion über das Gewünschte zu entwickeln, schließlich führte die Verkäuferin die Frau zu einem Stuhl vor einem Spiegel.
      Martha hatte noch nie eine Perücke gekauft; sie hatte auch noch nie eine anprobiert. Zaghaft, nur um zu sehen, wie sie ihr stand, nahm sie eine mit langem, aschblondem Haar. Die Wirkung war erstaunlich. Mit dem Make-up hatte sie schon eine Menge erreicht, doch mit der Perücke sah sie völlig anders aus: Sie machte sie zu einer vollkommen neuen Person mit anderer Vorgeschichte und anderer Persönlichkeit. Während Martha dastand und sich anstarrte, erfand sie eine Geschichte über die junge Frau, die sie sah: Geboren in King's Lynn, Norfolk, ausgebildet an einem exklusiven Mädcheninternat; sexy, unabhängig, vielleicht Besitzerin einer Kette von Boutiquen und oft zum Einkauf im Ausland unterwegs. Aus Angst, dass die Leute sie beobachten könnten, riss sie sich zusammen und widmete sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe.
      Als sie sicher war, dass ihr niemand große Aufmerksamkeit schenkte, probierte sie eine Reihe weiterer Perücken. Schließlich fand Martha eine, die zu ihr passte. Sie war walnussbraun, glänzte nicht übertrieben und wellte sich genau über ihren Schultern. Zudem fiel ein kurzer Pony in ihre Stirn, wodurch ihre Augen noch veränderter aussahen. Sie trug die Perücke zur nächsten Kasse, zahlte und verließ die Abteilung.
      Mit dem Fahrstuhl fuhr sie zur Damentoilette in der vierten Etage. Als sie die Tür aufschob, sprang eine zart aussehende Frau mit dürrem Körper und großem Kopf von der Waschbeckenkante und versteckte schnell eine Hand hinter dem Rücken. Martha fiel auf, dass sie die Uniform einer Verkäuferin trug - blaues Kostüm mit weißer Bluse und einem Messingschild auf der Jacke, das sie als Sylvia Wield auswies. Sie sah so schuldbewusst aus wie ein Schulkind, das hinter den Fahrradständern beim Rauchen erwischt worden war. Als sie merkte, dass es nur eine Kundin war, entspannte sie sich und legte eine Hand auf ihre Brust.
      »Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre die Abteilungsleiterin. Können Sie sich vorstellen, dass wir heutzutage nicht einmal mehr in unserem Aufenthaltsraum rauchen dürfen? Deswegen muss ich immer hier reinschleichen, wenn ich mal eine rauchen will. Hier oben in der Möbelabteilung ist normalerweise nicht so viel los.«
      Martha lächelte verständnisvoll und setzte sich dann in eine Kabine, bis die Verkäuferin verschwunden war. Das unerwartete Zusammentreffen hatte auch ihr Herz schneller schlagen lassen. Als alles wieder ruhig war, setzte sie die Perücke auf, schaute prüfend durch die geöffnete Tür, ob auch niemand Notiz von ihr nahm, und ging die Treppe hinunter zurück auf die Straße.
      Sie wusste, dass sie bald nach Whitby zurückkehren sollte, um noch ein Zimmer in einer anderen Pension zu bekommen, doch da sie schon einmal in Scarborough war, konnte sie nicht widerstehen, zum Hafen hinunterzugehen.
      Dort war jedoch nicht viel los. Krabbenkisten waren auf den Kai gestapelt, und es standen nur wenige Einheimische herum, strichen ihre Boote oder fummelten an den Motoren herum. Der Fischgeruch war noch strenger als in Whitby. Vermischt mit dem Gestank des Dieselöls wurde ihr schwindelig davon. Sobald sie einen jungen Kerl bemerkte, der in der Nähe an einer Mauer lehnte und sie lüstern anstarrte, kam sie zu dem Schluss, dass sie hier nur ihre Zeit vergeudete, und ging zur Bushaltestelle.
      Auf der Fahrt zurück nach Whitby las sie Herzen in Aufruhr. Das Buch hatte sie im selben kleinen Buchladen in der Church Street gekauft, nachdem sie Emma ausgelesen hatte. Nach einer guten halben Stunde war es Zeit, wieder auszusteigen. Dieses Mal ging sie jedoch nicht hinauf auf die West Cliff, sondern wandte sich in den Stadtteil hinter dem Bahnhof, welcher auch für seine Ferienherbergen bekannt war. In einer

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