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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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spürte, wie ihr kalt wurde. Die Gespräche um sie herum wurden zu einem bedeutungslosen Hintergrundgeräusch. Alles, was sie deutlich hören konnte, war die Litanei der Namen, die durch ihren Kopf rauschte: Margaret Snell, Kathleen Shannon, Jane Pitcombe, Kim Waterford, Jill Sarsden. Und nun eine weitere, deren Namen nicht bekannt war. Mit zitternden Händen zündete sie sich am Stummel der letzten eine neue Zigarette an und las den Artikel erneut. Wort für Wort las sie das Gleiche. Der Studentinnen-Schlitzer hatte wieder zugeschlagen. Sie hatte sich in Grimley getäuscht. Sie hatte den Falschen getötet.
      Würgend drückte sie ihre Zigarette aus, eilte in die winzige Toilette und verschloss die Tür. Nachdem sie ihr Frühstück erbrochen hatte, spritzte sie sich eisiges Wasser ins Gesicht und stützte sich heftig und tief atmend auf das Waschbecken. Sie fühlte sich immer noch benommen. Alles drehte sich, als würde sie auf einem hohen Balkon stehen und unter Höhenangst leiden. Ihre Haut war kalt und klamm, ihr Mund wie ausgetrocknet, ein säuerlicher Geschmack lag auf ihrer Zunge. Sie holte tief Luft und hielt den Atem an. Noch einmal. Noch einmal. Ihr Puls begann sich zu beruhigen.
      Der Falsche, dachte sie, setzte sich auf die Toilette und legte ihren Kopf in die Hände. Und sie war sich so verdammt sicher gewesen. Die heisere Stimme, der Dialekt, die schwieligen Hände, der tiefe, dunkle Pony, die funkelnden Augen - alles hatte gestimmt. Was hatte sie also falsch gemacht? Sie hatte anscheinend überhaupt nicht mehr klar gedacht. Obwohl ihr bereits aufgegangen war, dass ihre ursprüngliche Theorie - dass er ein Fischer war - falsch gewesen sein musste, hatte sie weitergemacht. Ihre Suche hatte von Anfang an auf ziemlich dürftigen Anhaltspunkten basiert. Jeder andere hätte gesagt, dass sie nach einer Nadel im Heuhaufen suchte und, was noch schlimmer war, dass sie keine Ahnung hatte, welcher Heuhaufen es sein sollte. Doch Martha hatte ihren Instinkten vertraut. Sie war sich sicher gewesen, dass sie ihn finden und dass sie ihn erkennen würde, wenn es so weit war. Tja, so viel zu ihren verfluchten Instinkten.
      In der Rückschau wurde ihr klar, dass sie hätte wissen müssen, dass ihre Einschätzung falsch gewesen war. Vor allem war er zu jung, und obwohl seine Stimme der gesuchten nahe kam, auf jeden Fall was den Dialekt betraf, war sie tiefer gewesen und weniger krächzend. Die Augen und Hände waren gleich gewesen, aber in seinem Gesicht hatte es keine tiefen Furchen gegeben.
      Warum hatte sie sich nicht mehr bremsen können? Dadurch war sie schlichtweg zur Mörderin geworden. Es gab keine Ausrede. Mit einem Schauer erinnerte sie sich an seinen zuckenden Körper auf dem Sand im Mondlicht, an den zerschmetterten Knochen und an die klebrige Hirnmasse zwischen ihren Fingern und den erstickenden Gestank des Seetangs in der Höhle. Sie hatte einen unschuldigen Mann getötet. Einen Mann, der sich zwar irgendwann an sie herangemacht hätte, richtig - aber nichtsdestotrotz einen unschuldigen Mann. Und damit musste sie jetzt leben.
      Sie stand auf, trank etwas Wasser aus dem Hahn und wusch sich das Gesicht. Sie sah blass aus, jedoch nicht so sehr, dass es die Leute bemerken würden. Erneut tief Luft holend entriegelte sie die Tür und ging zurück zu ihrem Tisch. Sie schien recht sicher auf den Beinen zu sein. Hoffentlich hatte niemand im Café gesehen, wie sie in Panik geraten war. Doch selbst wenn, sie würden nicht wissen warum. Ihr Kaffee war kalt geworden, doch die Zigarette, die sie nicht richtig ausgedrückt hatte, glomm noch im Aschenbecher vor sich hin. Der Artikel in der gefalteten Zeitung starrte sie regelrecht an. Sie drehte sie um und schaute aus dem Fenster. Wie Schatten in der Vorhölle schwebten Urlauber vorbei. »Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass der Tod so viele dahingerafft hat«, dachte sie unwillkürlich, konnte sich jedoch nicht erinnern, woher die Worte kamen.
      Sollte sie die Jagd jetzt abblasen und sich wieder zu Hause in ihr selbst errichtetes Schneckenhaus zurückziehen? Nein. Selbst jetzt, am absoluten Tiefpunkt, wusste sie, dass sie das nicht tun durfte. Wenn sie es tat, dann wäre alles umsonst gewesen. Grimley wäre umsonst gestorben. Nur wenn sie ihre Aufgabe erfüllte, wenn sie das tat, was sie tun musste, würde alles einen Sinn ergeben. Immer noch war sie überzeugt, dass sie in den richtigen Ort gekommen war: Sie würde ihren Mann in Whitby finden

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