Das stumme Lied
zuerst brauchte, war ein großes Warenhaus. Marks & Spencer wäre in Ordnung, dachte sie, als sie vor dem Schaufenster stand. Die Konfektionsware dort war gut gearbeitet, recht modern und nicht unerschwinglich. Nachdem sie sich in der Damenabteilung umgeschaut und die Regale und Ständer durchgesehen hatte, wählte sie einen schlichten, schwarzen Faltenrock, der bis über die Knie reichte, und eine gemusterte schwarze Strumpfhose. Dazu kaufte sie eine cremefarbene Baumwollbluse, die man bis zum Hals zuknöpfen konnte. Für den Fall, dass es wieder kalt wurde, suchte sie außerdem eine marineblaue Strickjacke aus.
In der Schuhabteilung wählte sie ein Paar einfache Pumps - vernünftige Schuhe, hätte ihre Mutter dazu gesagt -, die recht robust und bequem waren. Sobald sie ihre Einkäufe erledigt hatte, ging sie hinaus in eine öffentliche Toilette und zog sich um. Ihre alten Sachen - Jeans, T-Shirt, Turnschuhe und Steppjacke - packte sie in die Reisetasche. Das Zeug wegzuwerfen, wäre überflüssig, dachte sie. Niemand würde auf die Idee kommen, ihre Tasche zu durchsuchen, außerdem könnte sie die Sachen bestimmt wieder tragen. Sie musterte sich im Spiegel und war mit dem Ergebnis zufrieden. Ein nettes Mädchen, vielleicht Sekretärin oder Sprechstundenhilfe - genau das unauffällige, anonyme Äußere, das sie angestrebt hatte. Um es perfekt zu machen, könnte sie außerdem ihre Brille statt der Kontaktlinsen tragen.
Die Wolkendecke war etwas aufgerissen und ließ ein paar Sonnenstrahlen hindurch, und schon gingen einige Familien die Eastborough zum South Beach hinab. Die Kinder hingen nun nicht mehr an den Händen ihrer Eltern, sondern trollten zankend mit schwingenden grellen Plastikeimern und Schaufeln umher. Gelegentlich schlenderte ein Liebespaar händchenhaltend vorbei, ohne Eile und ohne Ziel, so lange sie nur einander hatten.
Martha fand eine Boots-Drogerie und ging schnurstracks auf den Make-up-Tresen zu. Dort kaufte sie die Grundausstattung: Lippenstift, Lidschatten, Wimperntusche, Grundierungscreme, Rouge - alles in vollkommen unauffälligen, konservativen Farben. In der Toilette eines Cafes auf der anderen Straßenseite stand sie neben einer anderen Frau, die sich ebenfalls zurechtmachte. Die Frau lächelte und begann über das Wetter zu plaudern und darüber, dass die Männer sich immer beklagen, wie lange eine Frau auf der Toilette blieb.
»Und wissen Sie was?«, fuhr sie fort und trug mit zusammengekniffenen Augen eine dicke Schicht Wimperntusche auf. »Ich glaube, sie bemerken nicht einmal einen Unterschied, wenn wir zurückkommen. Was glauben die denn, was wir die ganze Zeit hier drinnen machen? Glauben sie, unsere Blasen brauchen länger, um sich zu entleeren, oder was?« Sie lachte leise und seufzte dann auf. »Ist es das wert? Das frage ich mich wirklich.« Sie malte sich die Lippen glänzend rot an und tupfte sie mit einem Kleenex ab. Dann presste sie die Lippen ein paarmal aufeinander und machte einen Schmollmund.
Martha schaute sie an und bemerkte einen roten Fleck auf ihrem Vorderzahn. Sie musste an Vampire denken. »Keine Ahnung«, entgegnete sie. »Es kommt wohl darauf an, was man will.«
Das war der Frau zu philosophisch. Sie zerknüllte das verschmierte Taschentuch, warf es in den Mülleimer, runzelte dann die Stirn, seufzte erneut, richtete ihr Haar und verschwand.
Martha gab ihr Bestes. Sie hatte nie besonders gut mit Kosmetika umgehen können und sich außer für Partys oder Tanzveranstaltungen kaum geschminkt. Dieses Mal ging es allerdings nicht darum, sich in eine unwiderstehliche Schönheit zu verwandeln, sondern einfach darum, anders auszusehen als die junge Frau, die am Morgen Whitby verlassen hatte. Und das war eine überraschend einfache Angelegenheit. Der Lidschatten und die Wimperntusche akzentuierten ihre Augen, verbargen jedoch auch ihre Form. Das Rouge hob ihre Wangenknochen hervor, und die Schatten, die es erzeugte, veränderten die Dimensionen ihres Gesichts. Der Lippenstift machte ihren Mund größer und voller. Alles in allem, dachte sie, als sie das Resultat bewunderte, war es ein Erfolg. Schon jetzt sah sie wie eine andere Person aus, dabei war sie noch nicht einmal fertig. Im Moment entschied sie sich dagegen, ihre Brille zu tragen. Warum sollte sie so weit gehen?
Im nächsten Kaufhaus suchte sie die kleine Perückenabteilung auf. Sie wollte keine auffallende in Platinblond oder Pechschwarz, sondern eine, die vielleicht etwas
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