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Das Südsee-Virus

Das Südsee-Virus

Titel: Das Südsee-Virus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk C. Fleck
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zu, um der Urteilsverkündung zu folgen. Das Urteil in diesen Schauprozessen wurde vom Publikum gesprochen, im Namen des Volkes sozusagen. An jedem Sitz befand sich eine elektronische Tafel, auf der man zwischen vier Möglichkeiten wählen konnte: zehn Jahre Gefängnis, zwanzig Jahre Gefängnis, lebenslänglich Gefängnis oder Todesstrafe. Ein Freispruch war nicht möglich. Im Moment zeigten die Kameras jede Menge Daumen und Zeigefinger, die unschlüssig über die Tastaturen fuhren. Ein Gong ertönte. Auf der Bühne wurde es dunkel, lediglich der Angeklagte verharrte in seinem Lichtkegel. Auf einer Videowand, die sich wie ein Fallbeil aus den Kulissen senkte, baute sich die Grafik auf, die über das Abstimmungsergebnis Aufschluss gab. Todesstrafe! siebenundsiebzig Prozent. Allan Prescott übergab sich ins Waschbecken.
    Fünf Tage war Maeva mit der Informationsministerin Tanith Agosta unterwegs gewesen. Fünf Tage zwischen Abscheu und Bewunderung. Morgen nun sollte sie hier in Eugene mit den Mitgliedern des Ökorats zusammentreffen. Bis dahin hatte sie ein wenig Zeit für sich selbst, was ihr nach der anstrengenden Rundreise sehr gelegen kam. Sie dachte an ihren Aufenthalt auf Kuba zurück und an Ana Mariana Sánchez de Varona. Wie angenehm hatte sie sich in deren Gegenwart gefühlt, und wie kalt, ja herzlos war ihr dagegen Tanith Agosta erschienen. Die Frau war eine Fanatikerin, eine gnadenlose Ideologin, unbeugsam und arrogant. Menschen waren für sie Verfügungsmasse, die der Staat nach Belieben bewegen und manipulieren durfte. Menschen hatten sich schuldig gemacht an der Schöpfung. Für Tanith Agosta war das Rechtfertigung genug, diese Spezies auf der Werteskala des Lebens zurückzustufen in den Rang eines Raubtieres dritter oder vierter Art, wie sie es nannte. Noch nie war Maeva derart sprachlos gewesen wie in Gegenwart dieser Person.
    Sie überlegte, ob sie auf einen Spaziergang in die Stadt gehen sollte. Sie war ohne Aufsicht, und da der Ökostaat sich vom Internet abgenabelt hatte, lief sie auch nicht Gefahr, auf der Straße erkannt zu werden. Die Vorstellung hatte ihren Reiz. Zumal Eugene, wie alle Städte ECOCAS, ausschließlich Fußgängern vorbehalten war. Von den Bussen des öffentlichen Nahverkehrs abgesehen. Aber auch die durften sich der Innenstadt nur auf eine bestimmte Entfernung nähern. Aus ECOCA war das Auto konsequent verbannt worden. Man begnügte sich nicht mit alternativen Antrieben, das Auto wurde als das erkannt, was es war: ein Virus, das sämtliche Gesellschaftssysteme der Welt befallen hatte. Das sich eigene Strukturen schuf, immer mehr Platz forderte, die öffentlichen Räume zerriss und die gewachsenen Sozialkontakte schwer beschädigte, wenn nicht ganz zerstörte.
    »Die Vielfalt der Geschäfte, der kulturellen Einrichtungen und Handwerke, die man bei uns vorfindet, ist nur in entschleunigten Städten möglich«, hatte Tanith Agosta ihr auf dem Weg zum stillgelegten Flughafen von Sacramento mitgeteilt. In der für sie so typischen blutleeren Sprache, an der Maeva die letzten Tage fast verzweifelt wäre. Das Wort Autofahrer galt in ECOCA als Schimpfwort. Und wer das Pech hatte, von den Grünhelmen ohne Sondergenehmigung mit einem Altfahrzeug erwischt zu werden, womöglich noch mit Benzinantrieb, dem wurde im wahrsten Sinne des Wortes übel mitgespielt. Auf dem Rollfeld des stillgelegten Flughafens von Sacramento.
    »Eine reine Entzugsmaßnahme«, wie Tanith Agosta kalt lächelnd erklärte, bevor sie Maeva bat, in einer der gepanzerten Stahlkisten Platz zu nehmen. Etwa zwanzig dieser Fahrzeuge standen zur Verfügung. Ihre Inneneinrichtung war spärlich: Sitz, Steuer, Gaspedal sowie ein Schlauch, der mit dem Auspuff verbunden war. Dazu dicke Panzerglasscheiben. Kaum dass sich Maeva gesetzt hatte, schloss sich die Tür. Kurz darauf vernahm sie eine Stimme aus dem Bordlautsprecher: »Sie sind des Autofahrens überführt worden. In den nächsten Minuten erleben Sie am eigenen Leib, was Sie der Umwelt zugefügt haben. Es besteht keine Lebensgefahr. Starten Sie das Fahrzeug jetzt!«
    Natürlich erwartete niemand von ihr, dass sie das Fahrzeug starten würde, aber sie hatte zusehen müssen, was jenen Menschen passierte, die zu dieser »Entzugsmaßnahme« gezwungen wurden. Nachdem sich eine Kabine in Bewegung setzte, füllte sich der hermetisch abgeriegelte Innenraum mit Abgasen. Die Delinquenten schnappten nach Luft, griffen sich an die Gurgel oder trommelten in panischer Angst minutenlang

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