Das Südsee-Virus
die den Regeln des Ordens entsprechend alle Jahre für zwölf Monate auf die Insel geschickt wurden, um sich abseits der Zivilisation völlig neu zu erfahren. Er zehrte heute noch davon und hatte nicht übel Lust, sich für ein weiteres Jahr in die Abgeschiedenheit zu begeben. Nachdem er sich die letzten Monate im Dauerstress befunden hatte, würde es sicher guttun, einige Tage oder Wochen auf Rapa zu verbringen. Wie lange dies genau sein würde, hing nicht von ihnen ab.
Er ging hinunter in Maevas Kajüte, um sie über die Änderung des Reiseziels zu informieren. Sie begrüßte ihn wie einen Fremden. Während er sprach, streifte ihr prüfender Blick über sein Gesicht, und sie schien darin nichts zu finden, was ihr vertraut war. Ob sie seine Worte überhaupt zur Kenntnis nahm, vermochte Rudolf nicht zu beurteilen. Er war froh, als er wieder an Deck stand.
Cording hatte fast vergessen, wie heftig es bisweilen auf Tahiti regnete. Er saß auf den Stufen seiner Terrasse und beobachtete, wie die Palmen von den herabstürzenden Wassermassen regelrecht verprügelt wurden. Omai war vor einer halben Stunde gegangen. Sein Besuch hinterließ einen merkwürdigen Nachgeschmack. Dass sie Maeva zunächst nach Rapa gebracht hatten, um sie dort langsam zur Besinnung kommen zu lassen, leuchtete ein. Der Aufschub kam Cording nicht ungelegen. Zwar hätte er sich der Situation gestellt, aber es war nicht zu leugnen, dass er Angst vor dem Wiedersehen hatte. Er ging ins Haus. Es sah genauso aus wie vor einem Jahr. Es roch auch noch so. Maevas Duft war der Körpergeruch dieses Gebäudes. Er öffnete ihren Schrank und inhalierte, was von ihr noch in den Kleidern steckte. Merkwürdig, dachte er, auf dieser Insel kann man mit allem seinen Frieden schließen, selbst mit der eigenen Schuld. Er zündete ein Räucherstäbchen an und setzte sich in den Schaukelstuhl, um den sie des Öfteren scherzhaft gestritten hatten, nur um sich am Ende gemeinsam schaukeln zu lassen. Vielleicht war es ja so, wie Omai vermutete. Vielleicht würde Maeva die Entführung mit anderen Augen sehen, wenn sie erst einmal wieder in ihrer Kultur und bei ihren Leuten angekommen war. Die Eindrücke, die sie draußen in der Welt gewonnen hatte, mussten schwer auf ihrer Seele liegen – jedenfalls nach Meinung der Arioi. Es war schließlich das erste Mal, dass sie außerhalb Polynesiens unterwegs gewesen war. Und das auch noch in herausragender Position, als engagierte Kämpferin gegen die Mächte des Bösen. Cording musste schmunzeln. Sie hatte ihre Rolle in diesem Weltenepos wirklich gut gespielt. Aber hier, auf Tahiti, fragten sich die Menschen nach anfänglicher Begeisterung mit einigem Recht, ob ihre Präsidentin sich unbedingt an der Dummheit der Welt abarbeiten musste, statt sich um die Geschicke dieser fabelhaften Insel zu kümmern. So viel stand fest: Der Empfang für Maeva würde überwältigend ausfallen. Vielleicht würde sie dann verstehen, was ihr Bruder, Rauura und auch er sich bei der spektakulären Entführungsaktion gedacht hatten.
Cording rief »Maevas Reise« im Internet auf, er wollte sehen, ob Steve noch an dem Format arbeitete. Der Junge war nach New York zurückgeflogen, um Knowles für eine weitere Zusammenarbeit zu gewinnen. Wie stellte er sich die Zusammenarbeit vor? Knowles’ Arbeit am Mythos der Märtyrerin machte doch nur Sinn, wenn Maeva für die Öffentlichkeit gestorben war. Steve dagegen schien sicher zu sein, dass sie lebte. Die beiden schienen sich noch nicht einig zu sein, jedenfalls las man weder von Steve noch von Knowles irgendein Wort. Aber einen Blog hatten sie eingerichtet, auf der User aus aller Welt ihrer Empörung und Trauer Ausdruck verliehen. Wie immer, wenn Platz war für Verschwörungstheorien, meldeten sich auch Augenzeugen, die Maeva gesehen hatten. Im russischen Ufa etwa, in Anchorage/Alaska oder in der mexikanischen Provinz Yucatán. Beeindruckend fand Cording die Statements zahlreicher internationaler Persönlichkeiten, die sich für die Ziele Maevas einsetzten. Künstler, Wissenschaftler und Politiker waren darunter, sogar die Staatschefs von Kanada und des Iran. Die URP hatten inzwischen bekannt gegeben, dass sie keinen Nachfolger einsetzen würden, solange es noch Hoffnung gebe, Maeva lebend zu finden. So einfach, wie es sich die Arioi vorstellten, würde die Jeanne d’Arc der Ökologie wohl doch nicht von der Weltbühne ins tahitianische Provinztheater wechseln …
Eine Woche nachdem Cording auf Tahiti
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