Das Südsee-Virus
beschränkt bewegen – und mussten dafür auch noch teuer bezahlen. So latschten sie im Tross über klapprige Holzstege, die man als Touristenroute in den Regenwald gezimmert hatte. Während ihnen die Zweige des dichten Buschwerks ins Gesicht schlugen und das Gekreisch der Vögel wie ein andauernder hämischer Kommentar ihre Nerven strapazierte, erfuhren sie von den zahlreichen Glücksrittern, die die Kokosinsel während der letzten Jahrhunderte heimgesucht hatten. Selbst US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte sich dreimal auf Schatzsuche herbegeben, bevor ihm der Zweite Weltkrieg keine Zeit mehr für derlei Vergnügungen gelassen hatte. Sie erfuhren von dem Versuch Costa Ricas, die Insel Ende des 19. Jahrhunderts in eine Strafkolonie zu verwandeln, und davon, dass der berühmte Meeresforscher Jacques Cousteau auf einem Findling in der Chathambucht eine fabelhafte Steingravur hinterlassen hatte. Zwei Stunden waren sie bis dahin unterwegs. Während die Gruppe die fliegende Jungfrau bewunderte, die Cousteau in den Findling gehämmert hatte, machte sich Steve in ihrem Rücken davon. Nicht einmal Cording bemerkte das. Steves Fehlen wurde ihm erst bewusst, als man sich aufmachte, um die Hinterlassenschaften zahlreicher Schatzsucher-Expeditionen zu besichtigen, die mit Pickel und Dynamit einst ganze Berghänge geschliffen hatten.
Steve kroch unter dem schützenden Blätterdach hervor. Draußen auf See entdeckte er eine Reihe parallel laufender Boote, welche die Wasseroberfläche systematisch abzusuchen schienen. Er näherte sich den Soldaten, die am Strand in ihren Kochgeschirren löffelten. Es waren einheimische Soldaten, und da er kein Spanisch konnte, gestaltete sich die Unterhaltung schwierig. Einer von den Männern sprach ein wenig Englisch, und so erfuhr er, dass man im Umkreis von einem Kilometer eine Menge Flugzeugtrümmer gefunden hatte, aber keine Spur menschlicher Überreste. Die Maschine hing in vierhundert Meter Tiefe an einem unterseeischen Hang fest, und man befürchtete, dass sie durch die Strömung weiter abrutschen könnte. Vor einer halben Stunde waren Tiefseetaucher der US-Marine zum Wrack aufgebrochen.
»Mit etwas Glück wissen wir in wenigen Stunden mehr«, sagte der Soldat, »aber selbst wenn sie da unten niemanden finden sollten, zu bedeuten hätte das nichts. Das Meer hier wimmelt nur so von Hammer- und Riffhaien, die sich eine anständige Mahlzeit nicht entgehen lassen …«
Steve nickte gequält und machte sich auf in Richtung des Wasserfalls am Ende der Bucht. Er fragte sich, wieso ihn die Bemerkung des Soldaten nicht wirklich schreckte. Woher nahm er nur die Gewissheit, dass Maeva am Leben war? Seit er von dem Flugzeugunglück erfahren hatte, hegte er nicht den geringsten Zweifel daran. Vielleicht hatte das auch mit Cording zu tun, dessen Reaktion er nicht nachvollziehen konnte. Trotz aller zur Schau gestellten Betroffenheit wirkte seine Trauer kalt und leblos. Er überzeugte einfach nicht, weder im Reden noch im Schweigen. Schmerz fühlte sich anders an, und Cording hätte allen Grund gehabt, im Schmerz zu ertrinken, schließlich war er mit Maeva liiert, sie waren ein Paar!
Steve blieb stehen. Er hörte nichts mehr. Weder das Meer noch das Geschrei der Vögel. Er hielt sich die Nase zu und presste Luft in die Ohren. Nichts. Die Welt stand still. Wie lange dauerte das schon? Eine Sekunde? Zwei? Eine Minute? Ein Fregattvogel tauchte schreiend vor ihm auf, setzte sich auf einen der zahllosen Findlinge, die unterhalb des Wasserfalls über den Strand verteilt lagen, und blickte ihn mit schief gestelltem Kopf herausfordernd an. Steve lauschte erleichtert dem wiederkehrenden Geräusch der Wellen, die über die Kiesel rollten, und zog sich kräftig an den Ohren. Es fühlte sich nicht gut an, wenn die Welt stillstand.
»Was willst du?!«, fragte er den Vogel, der nicht aufhörte, ihn zu fixieren. Und dann entdeckte Steve etwas, das sein Herz rasen ließ. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war klar, dass dies hier keine Täuschung war! Vor ihm auf dem Stein, direkt im Schatten des hartnäckigen Fregattvogels, prangte in leuchtendem Weiß die Rongorongorune, die er Maeva in Sydney als Geste der Entschuldigung unter der Tür hindurchgeschoben hatte! Darüber, ebenfalls leuchtend weiß, ein Datum: 14. 2. 2029. Das war vor fünf Tagen gewesen! Er drehte sich um und rannte über den Strand zurück an die Stelle, wo man die Besucher auf den Holzweg geführt hatte. Wie in Trance
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