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Das Südsee-Virus

Das Südsee-Virus

Titel: Das Südsee-Virus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk C. Fleck
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seltsame Blüten, dass er Rauura um Aufklärung bat. Von Rauura erfuhr Cording, dass die Tupapa’u im Vaitepihatal am Ende der nördlichen Küstenstraße auf Tahiti Iti wohnten. Der Schamane ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass es die Geister wirklich gab: »Sie entsteigen den Körpern Verstorbener«, sagte er. »Tupapa’us können gutmütig oder schlecht sein, je nach Charakter der Person, aus der sie hervorgegangen sind. Sie kommen in unsere Welt zurück, um sich für die Schmerzen zu rächen, die ihnen die Menschen ihrer Umgebung im Leben zugefügt haben.«
    Die Gerüchte um die Verschleierte waren bisher noch nicht zu Rauura auf den Te Pari gedrungen. Als Cording ihm erzählte, dass die Fischer von Tautira vor lauter Angst nach Sonnenuntergang nicht mehr aus dem Haus gingen, dass die Bewohner des Dorfes nachts eine Lampe brennen ließen, wurde der Schamane nachdenklich.
    »Es soll einen Jungen im Dorf geben«, berichtete Cording, »der die Frau schon mehrmals aus einem Haus unterhalb des Berges Vaiami hat kommen sehen.«
    »Ein Tupapa’u zeigt sich erst, wenn es dunkel wird«, sagte Rauura nach einer Weile. »Die Person, von der du sprichst, wurde tagsüber beobachtet. Es scheint sich also um einen ganz normalen Menschen zu handeln, sterblich wie du und ich. Die Frage ist, warum diese Frau sich ausgerechnet im Vaitepihatal niedergelassen hat. Die wenigen Häuser dort sind verlassen. Entweder weiß sie nicht um die Bedeutung dieses Platzes, oder sie hat ihr Domizil sehr bewusst gewählt. Wir sollten der Sache nachgehen, bevor sich unsere Leute weiterhin verrückt machen lassen.«
    Am nächsten Tag wurde der Junge aus Tautira ins benachbarte Vaitepihatal geschickt, um der Fremden einen Brief des Präsidenten Omai zu überreichen, in dem dieser darum bat, empfangen zu werden. Der Bitte wurde postwendend entsprochen.
    Die Bewohner Tautiras folgten ihrem Präsidenten, dem Schamanen und dem Deutschen, wie Cording auf der Insel genannt wurde, im respektvollen Abstand ins Tal. An der Flussbiegung unterhalb des Vaiami blieben sie stehen, während Omai und seine Begleiter durch das flache Wasser ans andere Ufer wateten. Dort drüben befand sich das Haus, in dem die Fremde wohnte. Es hatte der Regierung als Gästerefugium gedient, wurde aber seit Jahren nicht mehr genutzt. Die Anfahrt war verwildert, ebenso der Garten, der sich ganz dem Dschungel ergeben hatte. Das Haus selbst befand sich in gutem Zustand, es wurde regelmäßig inspiziert und gereinigt.
    Omai, Rauura und Cording betraten die hölzerne Terrasse. Die Menschen am anderen Ufer des Flusses trauten sich nicht einmal mehr zu flüstern, einige versteckten sich im Wald. Omai klopfte an. Die Sekunden zogen sich in die Länge. Schließlich öffnete sich die Tür, und da stand die fremde Frau: schwarz, schlank und verschleiert.
    »Bitte kommen Sie herein«, sagte sie und ging voraus.
    Während sie in einem Sessel Platz nahm, rückten ihre Besucher auf die Couch, die eigentlich zu eng war für drei Personen. Der Augenblick der Stille war beängstigend, jedenfalls empfand Cording das so. Rauura, der zwischen ihm und Omai saß, bewegte die Nasenflügel, als habe er Witterung aufgenommen. Omai schien der Frau durch den Schleier direkt in die Augen zu sehen, und Cording hätte schwören können, dass sie den Blick standhaft erwiderte. Die Spannung im Raum wurde unerträglich.
    »Willkommen auf Tahiti«, sagte Omai.
    »Danke«, antwortete ihre Gastgeberin, setzte den Strohhut ab und entledigte sich in einer eleganten Bewegung des Gazeschleiers. Omai erstarrte bei ihrem Anblick, Rauura, dessen Gesicht ja wie das ihre blaustichig schimmerte, ließ die Unterlippe fallen und Cording betrachtete wie elektrisiert den Fächer hochschießender Linien, der ihre Stirn zierte. Sie explodierten auf dem kahlen Schädel und fielen als Funkenregen zurück auf die Wangen, wo sie sich zu einem gepflegten Geflecht aus Kringeln und Spiralen verdichteten. Das Gesicht dieser Frau schien ständig in Bewegung, obwohl sie ihnen regungslos gegenübersaß.
    »Woher kommen Sie?«, fragte Omai schließlich, als habe er ein Recht auf die Wahrheit.
    Sie antwortete nicht. Stattdessen löste sie den Knoten ihres Pareos und legte die linke Schulter frei. Cording, der auf der engen Couch den Körperkontakt zu Rauura nicht vermeiden konnte, bemerkte, wie der Schamane zu zittern begann. Die tätowierte Figur auf der Schulter der Frau zeigte ein Wesen mit aufgerissenem Mund und extrem langem Hals.

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