Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
diese jungen Menschen sich vor neuen Ideen, dabei waren sie es, die die Welt verändern mussten, nicht die alten Gelehrten. Marek seufzte. Doch die Studenten waren nicht der einzige Grund für seine Unzufriedenheit. Was mindestens genauso stark dazu beitrug, dass er am liebsten auf der Stelle seine Sachen gepackt hätte und nach Prag geritten wäre, war seine Tochter, die er dort zurückgelassen hatte.
Es war jedes Mal das Gleiche. Sobald er fern seiner Heimatstadt war, sehnte er sich nach Jana. Doch kaum war er wieder in Prag, konnte er die Nähe der jungen Frau nicht ertragen, weil sie ihn mit jeder Faser ihres Körpers an seine verstorbene Frau erinnerte. Mit dem blonden Haar, der hellen Haut und den dunkelgrünen Augen sah sie Anna so ähnlich, dass Marek jedes Mal aufs Neue erschrak, wenn er seine Tochter ansah. Der Schmerz, der ihn dann erfasste, war von einer solchen Heftigkeit, dass es ihn erneut forttrieb. Und Jana blieb allein bei seinem Bruder Karel, einem Apotheker, in Prag zurück. Es gab Menschen, die im Laufe der Jahre mit dem Verlust des geliebten Partners umgehen lernten, Marek gehörte nicht dazu. Lieber flüchtete er, statt sich dem Schmerz zu stellen. Und so schob er Janas Bild, das eben vor seinem geistigen Auge aufgetaucht war, wieder weg und starrte in den Himmel.
Das durfte einfach nicht wahr sein. Jetzt begann es tatsächlich zu schneien. Winzig kleine Eiskristalle landeten auf seinen Wangen und bohrten sich in die Haut. Marek presste die Augen zusammen, rieb über die müden Lider und fluchte laut, dann lief er rasch weiter.
Aus der Ferne hörte er ein regelmäßiges Klopfen. Es stammte von dem goldfarbenen Fisch, der über dem niedrigen Eingang einer Taverne hing und nun im Wind gegen die rote Backsteinfassade schlug. Das Geräusch hatte etwas Tröstliches, Vertrautes. Marek kam häufig hierher, auch wenn die anderen Mitglieder des Kollegiums lieber die Gasthäuser im oberen Teil der Stadt besuchten, wo Rehbraten und Rheinwein serviert wurden. Marek hingegen bevorzugte würziges, frisches Bier und böhmische Knödel, beides bekam er in der Taverne »Zum goldenen Fisch«, in der eine böhmische Wirtin Spezialitäten aus seiner Heimat kochte. Speck- und Grammelknödel mit Kraut und zum Nachtisch Powideltaschen mit heißen Butterbröseln.
Marek blieb vor dem einstöckigen Haus, aus dem laute Stimmen und Gelächter drangen, stehen. Er klopfte seinen Mantel ab und drückte die rot gestrichene hölzerne Eingangstür auf. Augenblicklich schlug ihm ein wohlvertrauter Geruch nach heißem Öl, frischer Hefe und gerösteten Zwiebeln entgegen. Vorsichtig zog Marek den Kopf ein, denn die Gaststube war so niedrig, dass er aufgerichtet gegen einen der rußgeschwärzten Deckenbalken gestoßen wäre. Er suchte in der vollen Stube nach einem freien Platz.
Mila, die Tochter der Wirtsleute, erkannte Marek und winkte ihm freudig zu. Sie war klein und beinahe ebenso breit wie hoch. Ihr üppiger Busen war eng zusammengeschnürt und quoll aus einem freizügigen Ausschnitt. Die Blicke sämtlicher männlichen Gäste waren ihr sicher.
»Dort hinten ist noch Platz«, rief sie. Mila sprach Deutsch mit tschechischem Akzent, obwohl Marek sie auch in ihrer Muttersprache verstanden hätte, und zeigte mit einem ihrer runden Finger auf einen Tisch im hinteren Teil des Raums. Ein einziger Besucher saß dort, Marek hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er sah fremdländisch aus, seine Haut war sonnengebräunt und wettergegerbt, und er wirkte nervös. Unablässig ließ er den Blick durch den Raum schweifen, wie ein gehetztes Tier, das bereit war, jeden Moment aufzuspringen und davonzulaufen.
Während Marek auf den freien Platz zuging, rief Mila ihm nach: »Wir haben Fleischknödel mit gerösteten Zwiebeln.«
»Das klingt wunderbar«, erwiderte Marek.
Dass er einen Krug voll frischem Bier dazu trinken würde, wusste Mila auch so. Die meisten Stammgäste kamen ausschließlich deswegen. Das Bier, das ihre Mutter nach einem alten Rezept aus frischem Hopfen und Malz herstellte, war mit Abstand das Beste der Stadt.
Marek zog seinen nassen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken an der Wand. Dann nahm er auf dem wackeligen Stuhl Platz. Es erforderte ein gewisses Maß an Geschicklichkeit, auf den maroden Stühlen der Taverne sicher zu sitzen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Aber Marek hatte Übung darin. Er nickte seinem Gegenüber zu, der offensichtlich schon mehrere Krüge Bier geleert hatte, denn die unruhigen Augen
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