Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
»Heilige Jungfrau« und feierten Feste für sie. Angeblich war sogar der Tag, an dem Maria von ihrer Mutter empfangen worden war, ein heiliger Tag. Auch der Brauch, an Christi Himmelfahrt Kräuter vom Dach der Kirche auf die Gläubigen zu streuen und auf diese Weise das Auffahren Jesu in den Himmel darzustellen, war ein Spektakel, das die Katholiken jedes Jahr veranstalteten. Jana, die zeit ihres Lebens die schlichten Gottesdienste der Protestanten besucht hatte, konnte mit den üppigen Festen der Katholiken wenig anfangen.
Doch es war nicht das erste Mal, dass Radomila sich über den Glauben der gesamten Familie hinwegsetzte und über die Konfessionen hinweg Kontakte knüpfte, die fürs Geschäft dienlich waren. Sie griff der Ratsherrin regelmäßig beim Veranstalten katholischer Feste unter die Arme. Gute Kunden bei Laune zu halten war eines von Radomilas Verkaufsgeheimnissen. Für sie standen die Einnahmen der Apotheke an oberster Stelle. Manchmal konnte Jana sich des Gedankens nicht erwehren, dass die viel jüngere Tante ihren alten verwitweten Onkel ausschließlich wegen der Apotheke geheiratet hatte. Dass Jana selbst als ausgebildete Apothekerin Tomek Kovarik, Radomilas Sohn aus erster Ehe, nur deshalb ehelichen sollte, damit die Apotheke auch nach dem Tod des Onkels im Familienbesitz blieb, war kein Geheimnis. Onkel Karel und Tante Radomila hatten die Verlobung zur Bedingung gemacht, als sie die Nichte vor rund zehn Jahren als Lehrling aufgenommen hatten. Damals war Jana vierzehn Jahre alt gewesen, zu jung, um gegen eine bezahlte Ausbildung und die geplante Ehe zu protestieren.
Jana schüttelte den Kopf in der Hoffnung, die unangenehmen Gedanken an die bevorstehende Heirat zu vertreiben.
»Das heißt, du bist am Nachmittag nicht da«, sagte sie und konnte nicht anders, als auf Radomilas Kette zu starren. Der herzförmige Anhänger glänzte im einfallenden Licht der schräg stehenden Frühlingssonne, die durch das kleine Fenster fiel.
»So ist es, meine Liebe.«
Da war schon wieder diese freundliche Anrede. Jana wusste, dass nun gleich die Bitte folgen würde, die immer noch nicht ausgesprochen worden war.
»Am Nachmittag kommt ein gewisser Dr. Conrad Pfeiffer. Er ist Arzt und stammt aus Wien. Er braucht eine Unterkunft, und ich habe ihm die Dachkammer angeboten, gegen eine lächerlich geringe Miete. Aber es kann nur von Vorteil sein, wenn eine Apotheke einen Arzt im Haus hat, nicht wahr?«
»Die Dachkammer ist nicht mehr als eine winzige Nische«, gab Jana zu bedenken.
»Ich glaube nicht, dass er sich daran stört. Alles, was der Mann will, ist ein Dach über dem Kopf, ein sauberes Bett, drei warme Mahlzeiten am Tag und Vermieter, die die deutsche Sprache beherrschen.«
Jana seufzte. Ihre Familie gehörte zu jenen deutschen Protestanten, die vor der Jahrhundertwende nach Prag gekommen waren, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Weil damals viele Deutsche der florierenden Wirtschaft wegen nach Prag gezogen waren, hatten es einige von ihnen nie der Mühe wert gefunden, sich die tschechische Sprache anzueignen. Es gab schließlich immer andere Deutsche, mit denen sie sich unterhalten konnten. Jana hingegen, ihr Onkel und auch ihr Vater, der im Moment in Heidelberg unterrichtete, sprachen beide Sprachen perfekt.
»Da ich mit Lenka Bednarik verabredet bin, musst du dem Arzt die Kammer zeigen.« Endlich hatte Radomila ihr Anliegen ausgesprochen.
Jana protestierte: »Aber ich bin den ganzen Nachmittag allein in der Apotheke! Onkel Karel ist auf Schloss Stern, und soviel ich weiß, kommt Tomek erst am Sonntag wieder nach Hause.«
Radomila machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Die Sache geht ganz schnell, und du kannst in der Zwischenzeit Pavlina in die Apotheke stellen.«
Jana zog überrascht die Augenbrauen hoch. Normalerweise durfte Pavlina, die Magd, den Verkaufsraum bloß zum Saubermachen betreten.
»Sie darf natürlich nichts verkaufen«, fügte Radomila rasch hinzu. »Und sie soll die Kundschaft auch nicht mit ihrem albernen Geschwätz belästigen, sondern nur höflich darauf hinweisen, dass du gleich wieder zurück sein wirst. Schließlich kann die Angelegenheit nicht lange dauern.«
Damit hatte die Tante wohl recht, denn die Kammer war so winzig, dass ein Blick hinein nicht länger als einen kurzen Moment in Anspruch nehmen konnte.
»Und vergiss nicht, die Medizin für die Bäckerin Morak abzumischen. Sie leidet seit Tagen an einem bösen Husten. Pavlina kann rasch hinüberlaufen und
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