Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
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Mit dem Bild seiner ruhigen, sauberen Kammer im Clementinum im Kopf schlich er sich zu dem Tölpel, der mit seinen Krücken in der Sonne saß, während die anderen die Wagen beluden.
Jendrik nahm neben ihm Platz, aber nicht zu nah, damit der Tölpel nicht auf die Idee kam, ihn zu berühren. Oft waren diese Menschen völlig hemmungslos.
Vorsichtig verwickelte Jendrik den jungen Mann in ein Gespräch, oder in etwas, was einem Gespräch sehr ähnlich war, denn der Schwachsinnige konnte bloß in einzelnen Worten antworten. Als Jendrik Janas Namen erwähnte, leuchteten die Augen des Einfältigen auf. Also hatte der andere Schauspieler gelogen. Nun war es ein Leichtes zu erfahren, wohin Jana und ihre beiden Begleiter unterwegs waren.
»Bitte … bitte … gebt Jana … einen Kuss von Kasper!«, hatte der Schwachsinnige gestottert, seine Lippen gespitzt und sich zu Jendrik gebeugt. Der reagierte eine Spur zu langsam, der Tölpel hatte schon seine Hand ergriffen und seine nassen Lippen darauf gedrückt. Immer noch ekelte sich Jendrik beim Gedanken daran, und obwohl der Vorfall schon Tage zurücklag, wischte er sich wiederholt mit dem Handrücken über den Oberschenkel.
Aber sie wussten nun, dass Jana und ihre beiden Begleiter auf dem Weg nach Dijon waren.
»Wie lange reiten wir noch bis Dijon?«
»Keine Ahnung. Aber der verdammte Gaul lahmt schon wieder. Ich fürchte, das Vieh braucht eine Pause.«
Auf einem der Hügel vor ihnen tauchte im feinen Schleier des Nieselregens ein Gebäude auf.
»Vielleicht ist das Haus dort eine Wirtsstube. Ich hätte Appetit auf ein Stück Braten und einen Schluck Bier«, meinte Jendrik. Sein Magen knurrte. Sie hatten seit dem kargen Frühstück nichts mehr gegessen.
»Das ist eine gute Idee. Wir könnten eine Kammer mieten und die Nacht dort verbringen. Ich bin nass bis auf die Knochen und habe keine Lust, noch einmal im Regen zu schlafen.«
Jendrik schluckte hart und hoffte, dass es einen großen Schlafsaal gab statt einzelner Kammern. Das letzte Mal, als sie eine Kammer gemietet hatten, hatte darin bloß ein einziges Bett gestanden, und Tomek hatte splitterfasernackt neben ihm geschlafen. Jendrik hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, aus Angst, er könnte seinem Freund im Schlaf zu nahe kommen und sein schreckliches Geheimnis preisgeben. Lieber würde er sich im Regen unter einem Baum in seinen Mantel einrollen. Auf diese Weise könnte er wenigstens ein bisschen erholsamen Schlaf finden. Das war besser, als noch einmal hellwach und voller Panik neben dem nackten Körper seines Freundes zu liegen. Das Verlangen, Tomeks starke Muskeln zu berühren, war so heftig, dass er Angst hatte, er könnte träumend etwas tun, wofür Tomek ihn auf der Stelle umbrachte.
»Lass uns das nach dem Essen entscheiden«, sagte Jendrik und hoffte darauf, dass der Regen bis dahin aufgehört hatte.
Aber ein weiterer Blick in den Himmel ließ diese Hoffnung schwinden. Vermutlich würde er eine weitere Nacht schlaflos neben Tomek liegen und sich schmerzhaft danach verzehren, ihm so nah zu sein, wie es sonst nur ein Mann einer Frau war. Jendriks Angst wuchs, der Freund könnte seine Wünsche und Phantasien erraten.
Zu Beginn der Reise hatte ihn die Vorstellung, jede Minute des Tages mit Tomek zu verbringen, mit Freude erfüllt. Jetzt war die Nähe zur Qual geworden, er war seinen Sehnsüchten hilflos ausgeliefert. Es war, als würde Gott ihn permanent für seine sündigen Gedanken bestrafen und ihn gleichzeitig prüfen. Jendrik wusste, dass er sein Geheimnis nicht mehr lange bewahren konnte. Es wurde Zeit, nach Prag zurückzukehren.
10
Dijon
J ANA HATTE DARAUF BESTANDEN , in dem kleinen sauberen Gasthaus mit dem Rosenbogen über dem Eingang einzukehren. Es hieß »Le Patron«, und die handtellergroßen dunkelroten Rosenblüten verströmten einen betörenden Duft.
Nun saßen sie in einer gemütlichen Wirtsstube, deren Wände weiß gestrichen waren, vor einem einladenden offenen Kamin. Trotz der Jahreszeit knisterte ein kleines behagliches Feuer. Über dem Kamin hingen zwei Ölgemälde, eines zeigte das Porträt des Wirts, das andere das seiner Frau. Es war ungewöhnlich, dass Bürgerliche sich porträtieren ließen. Für gewöhnlich war es Adeligen, hohen Kirchenmännern und Herrschern vorbehalten, sich durch Bilder unsterblich zu machen. Jana gefiel es, dass hier auch Wirte genug Geld besaßen, um sich malen zu lassen. Die Idee stammte angeblich aus den Niederlanden. Dort,
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