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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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solche wissenschaftlichen Hürden nehmen, die ohne weiteres hätten außer acht bleiben können.
    So konnte beispielsweise Lichonin, wenn er ihr Arithmetikunterricht gab, sich durchaus nicht mit ihrer eigentümlichen, barbarischen, wilden – oder besser: kindlichen –, selbsterfundenen Art des Zusammenzählens abfinden. Sie rechnete ausschließlich mit Einsen, Zweien, Dreien und Fünfen. So bestand die Zwölf für sie zum Beispiel aus zweimal zwei Dreien, die Neunzehn aus drei Fünfen und zwei Zweien, doch nach diesem System operierte sie mit der Geschwindigkeit eines Kugelrechenbrettes fast bis hundert. Weiter wagte sie nicht zu gehen, und es bestand übrigens für sie auch keine praktische Notwendigkeit dazu. Vergebens mühte sich Lichonin, sie aufs Dezimalsystem umzuschulen. Dabei kam nichts heraus, außer daß er die Fassung verlor, Ljubka anschrie und sie ihn dann schweigend und schuldbewußt ansah, mit weit aufgerissenen Staunaugen, an denen die tränenbenetzten Wimpern wie lange schwarze Pfeile zusammenklebten. Auf die gleiche ausgefallene Weise lernte sie relativ leicht das Addieren und Multiplizieren, doch Subtraktion und Division blieben ihr ein Buch mit sieben Siegeln. Dafür konnte sie aber erstaunlich flink, leicht und scharfsinnig alle möglichen scherzhaften Textaufgaben lösen, und sie erinnerte sich selbst noch an sehr viele dieser Art, die schon jahrtausendelang in den Dörfern kursierten.
    Für Geographie hatte sie absolut keinen Sinn. Zwar konnte sie sich hundertmal besser als Lichonin auf der Straße, im Garten und im Zimmer nach Himmelsrichtungen orientieren – da zeigte sich ein alter bäuerlicher Instinkt bei ihr –, doch die Kugelform der Erde lehnte sie strikt ab, und den Horizont erkannte sie nicht an, und als sie hörte, daß die Erdkugel sich im Raum bewegt, konnte sie nur vor Lachen prusten. Landkarten waren für sie immer ein unverständliches Farbengekleckse, doch einzelne Figuren merkte sie sich schnell und genau. »Wo ist Italien?« fragte Lichonin sie. »Hier. Der Stiefel«, sagte Ljubka und zeigte triumphierend auf die Apenninenhalbinsel. »Schweden und Norwegen?« – »Das ist der Hund, der vom Dach springt.« – »Die Ostsee?« – »Die kniende Witwe.« – »Das Schwarze Meer?« – »Der Schuh.« – »Spanien?« – »Der Dicke mit der Mütze. Hier …« und so weiter.
    Mit Geschichte war es nicht besser. Lichonin bedachte nicht, daß sie mit ihrer kindlichen Seele, die nach Poesie lechzte, sich anhand von verschiedenen lustigen und heroischtragischen Anekdoten leicht mit historischen Ereignissen vertraut gemacht hätte; er war gewohnt, auf Prüfungen zuzuarbeiten und mit Gymnasiasten der vierten oder fünften Klasse zu pauken, und so quälte er sie mit Namen und Jahreszahlen. Außerdem war er sehr ungeduldig und unbeherrscht, er brauste leicht auf, ermüdete schnell, und der heimliche, meist verborgene, aber ständig wachsende Haß auf dieses Mädchen, das sein ganzes Leben so plötzlich und auf so dumme Weise umgekrempelt hatte, brach während der Unterrichtsstunden immer öfter und ungerechter in ihm auf.
    Weitaus größerer Erfolge als Pädagoge konnte Nisheradse sich rühmen. Seine Gitarre und seine Mandoline hingen immer im Wohnzimmer, mit den Bändern an Nägeln aufgehängt. Ljubka gefiel die Gitarre mit ihren weichen, warmen Tönen besser als das erregende metallische Klimpern der Mandoline. Wenn Nisheradse zu ihnen zu Besuch kam (drei oder vier Abende in der Woche), nahm sie selbst die Gitarre von der Wand, wischte sie sorgsam mit einem Tuch ab und gab sie ihm. Nachdem er das Instrument kurz gestimmt hatte, räusperte er sich, schlug die Beine übereinander, lehnte sich lässig auf dem Stuhl zurück und begann mit kehliger, ein wenig heiserer, aber angenehmer und guter Tenorstimme:
    »Stiel war die Noocht, und man hörte
Variräterisch laut ainen Kuß,
Der ruhrte an Härz und betörte
Das liabende Pärchen am Fluß.

Ain Augenbliek der Zwaisamkaait …«
    Und dabei gab er sich den Anschein, vom eigenen Gesang zutiefst gerührt zu sein, schloß halb die Augen, bewegte an leidenschaftlichen Stellen heftig den Kopf oder nahm in den Pausen die rechte Hand von den Saiten und erstarrte sekundenlang, den Blick seiner schweren, feuchten Hammelaugen tief in Ljubkas Augen gesenkt. Er kannte unendlich viele Romanzen, Liedchen und alte Scherzlieder. Am besten gefielen Ljubka die bekannten armenischen Couplets über einen gewissen Karapet:
    Karapet hat ein Buffet,
Drauf 'ne

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