Das sündige Viertel
zu haben.«
»Was machen sie? Einfach so, ohne Popen? Ja?« fragte Ljubka beunruhigt, von ihren Kunstblumen aufblickend.
»Natürlich. Warum nicht! Freie Liebe, nichts weiter. So wie Sie und Lichonin.«
»Ach, ich! Das ist ganz was anderes. Sie wissen doch, wo er mich hergeholt hat. Aber sie ist ein unschuldiges und edles Fräulein. Das ist gemein, was er da macht. Und glauben Sie mir, Solowjow, er läßt sie dann bestimmt wieder fallen. Ach, das arme Mädchen! Also ja, lesen Sie weiter.«
Doch bereits wenige Seiten später ging alle Sympathie und alles Mitgefühl Ljubkas von Manon auf den betrogenen Chevalier über.
»Dennoch beunruhigten mich der Besuch und das heimliche Weggehen dieses Herrn de Be. Auch erinnerte ich mich der kleinen Einkäufe Manons, die unsere Mittel zu übersteigen schienen. Das deutete auf die Freigebigkeit eines neuen Verehrers. Doch nein, nein! wiederholte ich, es ist unmöglich, daß Manon mich betrügt! Sie weiß, daß ich nur für sie lebe, sie weiß genau, daß ich sie anbete.«
»Ach, der Dumme, der Dumme!« rief Ljubka aus. »Das sieht man doch auf den ersten Blick, daß dieser Reiche sie aushält. Ach, wie niederträchtig sie doch ist!«
Und je weiter der Roman fortschritt, um so lebhafter und leidenschaftlicher nahm Ljubka daran Anteil. Sie hatte nichts dagegen, daß Manon mit Hilfe ihres Liebhabers und ihres Bruders ihre jeweiligen Gönner ausnahm und daß des Grieux in Spelunken Falschspielerei betrieb, doch jede neue Untreue Manons versetzte Ljubka in Raserei, und die Leiden des Chevaliers trieben ihr Tränen in die Augen. Eines Tages fragte sie: »Solowjow, mein Lieber, wer war das eigentlich, der das geschrieben hat?«
»Ein französischer Geistlicher.«
»Er war kein Russe?«
»Nein, ich sag dir doch, ein Franzose. Sieh mal, bei ihm ist alles französisch: die Städte und die Familiennamen.«
»Und Sie sagen, er war Geistlicher? Woher hat er das denn alles gewußt?«
»Er wußte es eben. Vorher war er ein gewöhnlicher weltlicher Mann, ein Adliger, und erst später wurde er Mönch. Er hat viel gesehen in seinem Leben. Später hat er das Kloster auch wieder verlassen. Hier vorn im Buch steht übrigens ausführlich über ihn geschrieben.«
Er las ihr die Biographie des Abbé Prévost vor. Ljubka hörte aufmerksam zu, sie nickte bedeutsam mit dem Kopf, fragte an manchen Stellen nach, wenn ihr etwas unklar war, und als er schloß, sagte sie nachdenklich: »So war das also mit ihm! Schrecklich gut hat er das geschrieben. Bloß, warum ist sie so gemein? Er liebt sie doch so sehr, fürs ganze Leben, und sie betrügt ihn immerzu.«
»Tja, Ljubotschka, so ist es nun mal. Sie hat ihn ja auch geliebt. Nur daß sie ein leichtsinniges Mädchen ist. Ihr geht's bloß um Kleider und eigene Pferde und Brillanten.«
Ljubka fuhr auf und schlug die Fäuste gegeneinander.
»Ich hätte sie in Klump gehauen, das Miststück! Von wegen – sie hat ihn geliebt! Wenn du einen Menschen liebhast, dann muß dir alles an ihm lieb sein. Kommt er ins Gefängnis, dann geh mit ihm ins Gefängnis. Wird er zum Dieb, dann hilf ihm. Und wenn er ein Bettler ist, hältst du trotzdem zu ihm. Nur ein Stückchen Schwarzbrot – was ist schon dabei, wenn man sich liebt? Ein Miststück ist sie, ein Miststück! Ich an seiner Stelle hätte sie sitzengelassen oder hätte ihr, statt zu heulen, eine solche Tracht Prügel versetzt, daß sie einen ganzen Monat mit blauen Flecken rumgelaufen wäre, diese Schlange!«
Den Schluß der Geschichte konnte sie lange nicht bis zu Ende anhören, sie brach stets so heftig in Tränen aus, daß das Vorlesen unterbrochen werden mußte, und so schafften sie das letzte Kapitel erst beim vierten Anlauf. Und auch dem Vorleser kamen dabei zuweilen die Tränen.
Die Nöte und Bedrängnisse der Liebenden im Gefängnis, Manons gewaltsamer Abtransport nach Amerika und die Selbstlosigkeit des Grieux', der ihr freiwillig folgte – dies alles beschäftigte Ljubkas Phantasie und erschütterte sie derart, daß sie sogar vergaß, ihre Bemerkungen zu machen. Als sie der Szene vom stillen, schönen Tod Manons inmitten der öden Ebene lauschte, saß sie unbeweglich, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte ins Licht der Lampe, und aus ihren weit offenen Augen flossen ohne Unterlaß die Tränen und fielen auf den Tisch wie leiser Regen. Doch als der Chevalier des Grieux, der zwei Tage neben dem Leichnam seiner treuen Manon gelegen hatte, ohne seine Lippen von ihren Händen und ihrem
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