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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Und außerdem wußte er wohl – wie überhaupt diese Menschen aus dem Orient, ungeachtet ihrer scheinbaren Naivität oder vielleicht gerade durch sie, ein feines psychologisches Gespür haben, wenn sie nur wollen –, wußte er wohl, daß er, wenn er Ljubka auch nur für einen Moment zu seiner Geliebten machen würde, für immer und ewig dieses liebe, stille, familiäre abendliche Asyl verlöre, an das er sich so gewöhnt hatte. Er, der fast mit der ganzen Universität auf Duzfuß stand, fühlte sich dessenungeachtet doch so einsam in der fremden Stadt und dem bislang für ihn noch fremden Lande!
    Das meiste Vergnügen bereitete der Unterricht Solowjow. Dieser große, starke und saloppe Mensch erlag ganz unwillkürlich, ohne daß er selbst es bemerkte, jenem heimlichen, verborgenen, unwirklichen weiblichen Zauber, der sich oft unter der rauhesten Schale verbirgt, sogar im übelsten, verkommensten Milieu. Hier herrschte die Schülerin, gehorchte der Lehrer. Ihr ursprüngliches Wesen, frisch und tief und originell, bestimmte Ljubka, sich nicht fremden Methoden zu beugen, sondern ihre eigenen sonderbaren Wege zu suchen. So lernte sie beispielsweise, wie übrigens viele Kinder, früher schreiben als lesen. Nicht sie selbst, von Natur aus weich und nachgiebig, wohl aber eine bestimmte Eigentümlichkeit ihres Verstandes sperrte sich beim Lesen dagegen, Vokal an Konsonant zu fügen und umgekehrt; beim Schreiben jedoch klappte es. Für Schönschrift auf Linien hatte sie, anders als die meisten Schüler, sehr viel übrig: sie schrieb, tief übers Blatt gebeugt, dabei seufzte sie laut, pustete vor Eifer aufs Papier, als wolle sie eingebildete Stäubchen wegblasen, leckte sich die Lippen und beulte mit der Zunge mal die eine, mal die andere Wange. Solowjow widersprach ihr nicht, er folgte den Wegen, die ihr Instinkt vorschrieb. Und so kam es, daß in diesen anderthalb Monaten sein großes, weites, gewaltiges Herz sich ganz an dieses schwache, flüchtige Wesen, das ihm zufällig begegnet war, anschloß. Es war die behutsame, komische, großmütige, etwas erstaunte Liebe und zarte Fürsorge eines gutmütigen Elefanten für ein zerbrechliches, hilfloses flaumgelbes Kücken.
    Das Vorlesen war für beide ein Genuß, und abermals bestimmte Ljubkas Geschmack die Auswahl der Werke, und Solowjow folgte nur dessen Lauf und Windungen. So konnte sich Ljubka beispielsweise mit Don Quichote nicht anfreunden, sie ermüdete und wandte sich schließlich ganz von ihm ab, hingegen hörte sie mit Vergnügen Robinson, wobei sie besonders ausgiebig bei der Szene seines Wiedersehens mit den Verwandten weinte. Ihr gefiel auch Dickens, und sie erfaßte sehr leicht seinen lichten Humor, doch die englische Lebensweise blieb ihr fremd und unverständlich. Oft lasen sie auch Tschechow, und ohne Schwierigkeiten drang Ljubka in die Schönheit seiner Bilder ein, in sein Lächeln und in seine Trauer. Die Kindergeschichten rührten sie dermaßen, daß es ganz drollig und eine Freude war, sie anzusehen. Einmal las Solowjow ihr Tschechows Erzählung »Der Anfall« vor, in der bekanntlich ein Student zum erstenmal in ein Bordell gerät und dann, am nächsten Tag, sich wie in einem Krampfanfall vor schneidender Seelenqual und dem Bewußtsein allgemeiner Schuld windet. Solowjow hatte nicht erwartet, daß diese Geschichte so gewaltigen Eindruck auf sie machen würde. Sie weinte, schimpfte, fuchtelte mit den Händen und rief ein übers andere Mal: »Mein Gott! Wo nimmt er das alles bloß her, und so gekonnt! Das ist doch haargenau wie bei uns!«
    Einmal brachte er ein Buch mit, das trug den Titel: »Die Geschichte des Chevalier des Grieux und der Manon Lescaut, aufgeschrieben von Abbé Prévost«. Es muß hinzugefügt werden, daß Solowjow dieses erstaunliche Buch selbst zum erstenmal las. Doch viel tiefer und feinfühliger genoß es Ljubka.
    Das Fehlen einer Fabel, die naive Handlung, die übertriebene Sentimentalität, die altmodische Schreibweise – dies alles dämpfte Solowjows Interesse. Ljubka hingegen nahm nicht nur mit den Ohren, sondern gleichsam mit Augen und naiv geöffnetem Herzen alles in sich auf, alle heiteren und traurigen, rührenden und leichtsinnigen Details dieses bizarren unsterblichen Romans.
    »Unsere Heiratspläne waren schon in Saint-Denis vergessen«, las Solowjow, seinen blonden Strubbelkopf unterm Lampenschirm tief über das Buch geneigt, »wir betrogen die Kirche um ihre Rechte und fanden uns als Ehepaar, ohne lange darüber nachgedacht

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