Das sündige Viertel
die Berührung, dann gibt sie sich hin! dachte Simanowski berechnend. Er wollte mit den Lippen ihren Mund zum Kuß berühren, sie aber schrie und fauchte ihn speichelsprühend an. Die ganze angelernte feine Lebensart fiel von ihr ab.
»Hau ab, räudiger Teufel, du Blödian, du Schwein, du Lump! Ich schlage dir die Fresse kaputt!«
Das gesamte Vokabular des Etablissements stand ihr wieder zur Verfügung, Simanowski jedoch, der den Zwicker verloren hatte, sah sie verzerrten Gesichts aus trüben Augen an und stammelte sinnlos auf sie ein: »Meine Teure … ganz egal … eine Sekunde des Genusses! Wir vereinen uns in Seligkeit! Niemand erfährt es! Werde mein!«
In diesem Augenblick betrat Lichonin das Zimmer.
Im tiefsten Innern gestand er sich natürlich selbst nicht ein, daß er in diesem Moment eine Gemeinheit beging, er dachte nur beiläufig, wie von fern, daß sein Gesicht blaß sein müsse und daß seine Worte jetzt tragisch und bedeutsam klängen.
»Ja!« sagte er dumpf, wie ein Schauspieler im vierten Akt des Dramas, und er ließ die Arme kraftlos hängen und wiegte das auf die Brust gesunkene Kinn. »Alles habe ich erwartet, nur das nicht. Dir verzeihe ich, Ljuba, du bist nun mal ein Höhlenmensch, aber Sie, Simanowski … Ich hielt Sie … ich halte Sie übrigens auch jetzt noch für einen anständigen Menschen. Jedoch ich weiß, daß die Leidenschaft zuweilen stärker ist als alle vernünftigen Erwägungen. Hier sind fünfzig Rubel, ich lasse sie für Ljuba hier, Sie werden sie mir natürlich später zurückgeben, daran zweifle ich nicht. Nehmen Sie sich ihres Schicksals an … Sie sind ein kluger, guter, ehrlicher Mensch, ich aber (›Schurke!‹ hörte er ganz deutlich eine Stimme in seinem Innern) … ich gehe, denn ich halte diese Qual nicht länger aus. Werden Sie glücklich!«
Er zog seine Brieftasche hervor und warf sie effektvoll auf den Tisch, dann raufte er sich das Haar und lief aus dem Zimmer.
Das war trotz allem die beste Lösung für ihn. Und die Szene spielte sich genau so ab, wie er es sich ausgemalt hatte.
Dritter Teil
1
All dies erzählte Ljubka sehr ausführlich und mit Unterbrechungen, während sie an Shenkas Schulter schluchzte. Freilich stellte sich die tragikomische Geschichte aus ihrer persönlichen Sicht durchaus nicht so dar, wie sie sich in Wirklichkeit zugetragen hatte.
Wenn man ihr glauben wollte, so hatte Lichonin sie nur zu sich genommen, um sie zu verführen, ihre Dummheit auszunutzen und sie dann fallenzulassen. Und sie dumme Gans hatte sich doch tatsächlich in ihn verliebt, und da sie sehr eifersüchtig war auf alle diese Lockenköpfe mit Ledergürteln, beging er eine Gemeinheit: Er schickte absichtlich seinen Freund, mit dem hatte er sich vorher abgesprochen, und der fing an, sie zu umarmen, und da kam Waska rein und sah das und machte einen Riesenskandal und warf sie auf die Straße.
Gewiß, in ihrer Wiedergabe steckten Wahrheit und Unwahrheit fast zu gleichen Teilen, doch ihr jedenfalls stellte sich alles so dar.
Mit vielen Einzelheiten erzählte sie auch, wie sie, plötzlich ohne männlichen Schutz und überhaupt ohne jegliche Stütze von außen dastehend, in einem miesen Hotel in einer abgelegenen Straße ein Zimmer gemietet hatte, wie der Etagendiener, ein ganz gewiefter, abgefeimter Halunke, sie gleich vom ersten Tag an für Geld anbieten wollte, ohne sie überhaupt um Erlaubnis zu fragen, wie sie aus dem Hotel in eine Privatwohnung umgezogen war, doch auch dort hatte eine erfahrene alte Kupplerin, von denen es in Häusern, wo Arme wohnen, wimmelt, sie ausfindig gemacht.
Also war sogar im normalen Leben in Ljubkas Gesicht, in ihrer Redeweise und ihrer ganzen Art etwas Spezifisches zu spüren, das ein ungeschultes Auge vielleicht gar nicht bemerkte, das aber für die, die damit zu tun hatten, deutlich zutage trat.
Doch ihre zufällige, kurze wahre Liebe gab ihr eine Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, Kraft zum Widerstand gegen die Unvermeidlichkeit, zum zweitenmal zu Fall zu kommen. In ihrer heroischen Tapferkeit ging sie so weit, mehrmals in der Zeitung zu inserieren, daß sie eine Stellung als »Mädchen für alles« suche. Jedoch sie besaß keinerlei Empfehlungen. Außerdem hatte sie es bei der Bewerbung jedesmal mit Frauen zu tun, und die erspürten in ihr mit untrüglichem innerem Instinkt ebenfalls die Erzfeindin – die Verführerin ihrer Gatten, Brüder, Väter und Söhne.
Nach Hause zu fahren hatte für sie weder Sinn
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