Das sündige Viertel
und zwar in jenen traurig-tragischen und zaghaften Minuten einsamen Geschlechtsgenusses, die wenn nicht hundert, so doch auf jeden Fall neunundneunzig Prozent aller Männer durchmachen.
Sehr früh schon, etwa mit neun oder neuneinhalb Jahren, hatte Kolja geschlechtliche Erregung kennengelernt, doch er hatte nicht die geringste Ahnung von jenem Teil der Verliebtheit und des Schwärmens, der sich so schrecklich ausnimmt, wenn man ihn von außen betrachtet oder wissenschaftlich erklärt. Leider gab es dazumal in seiner Umgebung keine der heutigen fortschrittlichen und gelehrten Damen, die dem klassischen Klapperstorch den Hals umdrehen, den Kohlkopf, unter dem die Neugeborenen liegen, mit der Wurzel ausreißen und empfehlen, Kindern im Unterricht und in Gleichnissen rückhaltlos und nahezu graphisch genau das große Geheimnis der Liebe und der Empfängnis zu erläutern.
Überhaupt waren in jener fernen Zeit, von der die Rede ist, geschlossene Anstalten – Knabenpensionate und -institute und auch Kadettenkorps – eine Art Treibhäuser. Die Sorge um das geistige und moralische Wohl der Knaben wurde nach Möglichkeit den Erziehern überlassen, formalistischen Beamten, und außerdem ungeduldigen, zänkischen Klassenvorsteherinnen, die ihre Sympathien launisch verteilten und hysterisch waren wie alte Jungfern. Jetzt ist das anders. Doch damals waren die Knaben auf sich selbst angewiesen. Kaum der Mutterbrust entwöhnt, bildlich gesprochen, gerade erst des Umgangs mit ihren Kinderfrauen, deren liebevoller Fürsorge, der morgendlichen und abendlichen Liebkosungen beraubt, schämten sie sich zwar, zartere Züge, die als »weibisch« galten, zu zeigen, sehnten sich aber doch gewaltig nach Küssen, Berührungen und intimem Geflüster.
Natürlich könnte diese kritische Periode durch behutsamen Umgang, durch Baden und Freiübungen an frischer Luft – nicht Gymnastik, sondern eben Freiübungen je nach persönlichem Bedürfnis – hinausgezögert oder gemildert und in vernünftige Bahnen gelenkt werden.
Ich wiederhole: Damals gab es das nicht.
Die Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit, nach der Zuwendung von Mutter, Schwester oder Kinderfrau, die so plötzlich weggefallen war, verkehrte sich in abstruse Formen des Werbens um die Gunst hübscher Knaben (genau wie in Mädcheninstituten das »Schwärmen«); man stand gern flüsternd in den Ecken beisammen, man ging umarmt oder Hand in Hand auf dunklen Fluren spazieren und flüsterte sich gegenseitig unwahrscheinliche Geschichten von Abenteuern mit Frauen ins Ohr. Teilweise war dies ein kindliches Bedürfnis nach Phantastischem, teilweise auch erwachende Sinnlichkeit. Nicht selten kam es vor, daß ein fünfzehnjähriger Grünschnabel, dem es angestanden hätte, Schlagball zu spielen oder Milchbrei zu löffeln, nach der Lektüre bestimmter Romane erzählte, er ginge jetzt jeden Samstag, wenn er Ausgang hätte, zu einer schönen Millionärswitwe, und die sei leidenschaftlich in ihn verliebt, und neben ihrer beider Lager stünden immer Früchte und kostbare Weine, und sie liebe ihn geradezu rasend.
In diese Zeit fiel übrigens auch die Phase süchtigen Lesens, die selbstverständlich jeder Junge und jedes Mädchen durchmacht. So streng die Klassenaufsicht in dieser Hinsicht auch sein mochte, die jungen Leute lasen und lesen trotzdem gerade das, was ihnen nicht erlaubt ist, und werden es auch künftig tun. Hier wirkt das spezielle Risiko und der Reiz des Verbotenen. Bereits in der dritten Klasse gingen handschriftliche Texte von Barkow und eines verfälschten Puschkin von Hand zu Hand, desgleichen die Jugendsünden Lermontows und anderer: »Die erste Nacht«, »Der Kirschbaum«, »Luka«, »Petershofer Fest«, »Die Ulanenfrau«, »Verstand schafft Leiden«, »Der Pope« und so weiter.
Jedoch, so sonderbar, spitzfindig oder paradox es auch anmuten mag, diese Werke weckten keine wonnige Neugier, auch Zeichnungen und pornographische Fotografien nicht. Dies alles betrachtete man als etwas, dem der Reiz von Schmugglerrisiko und Lausbüberei anhaftete. In der Kadettenbibliothek gab es keusche Auszüge aus Puschkin und Lermontow, den ganzen Ostrowski, der nur komisch wirkte, und fast den ganzen Turgenjew, der denn auch in Koljas Leben eine wichtige und ziemlich grausame Rolle spielte. Bekanntlich ist beim großen Turgenjew die Liebe stets von einem prickelnden Schleier umgeben, von einem kaum spürbaren Hauch des Verbotenen, aber Verführerischen: Bei ihm ahnen die jungen Mädchen die
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