Das sündige Viertel
Liebe und sind durch ihr Herannahen erregt, sie sind über die Maßen schamhaft, sie zittern und erröten. Verheiratete Frauen oder Witwen vollziehen diesen qualvollen Weg etwas anders: Sie kämpfen lange mit Pflichtgefühl oder mit Anständigkeit oder mit der öffentlichen Meinung, und schließlich – o weh! – kommen sie unter Tränen zu Fall oder – o weh! – beginnen sie mit dem Feuer zu spielen, oder, was am häufigsten vorkommt, ein unerbittliches Geschick beendet ihr oder sein Leben im – o weh! – wichtigsten Augenblick, da die reife Frucht nur noch eines leichten Windstoßes bedürfte, um zu fallen. Und dennoch dürsten all seine Figuren nach dieser schmachvollen Liebe, sie macht sie lachen und weinen und verstellt ihnen den Blick auf die ganze Welt. Da aber die Knaben völlig anders denken als wir Erwachsenen und da alles Verbotene, Unausgesprochene oder heimlich Ausgesprochene in ihren Augen von riesigem, nicht nur höchstem, sondern allerhöchstem Interesse ist, so war es ganz natürlich, daß sie aus der Lektüre die verschwommene Schlußfolgerung zogen, die Erwachsenen würden ihnen etwas verheimlichen.
Und außerdem wollen wir nicht vorgeben, Kolja, genau wie die meisten seiner Altersgefährten, hätte nicht gesehen, wie das Dienstmädchen Frossja, diese Rotwangige, immer Fröhliche, mit Beinen, derb wie Stahl (manchmal, wenn ihn der Teufel ritt, klopfte er sie auf den Rücken), wie sie einmal, als Kolja zufällig rasch das Arbeitszimmer seines Vaters betrat, in aller Eile von dort hinausschlüpfte, das Gesicht unter der Schürze bergend, er hätte nicht gesehen, daß Papas Gesicht damals ganz rot war, mit bläulicher, scheinbar länger gewordener Nase, so daß Kolja dachte: Papa sieht aus wie ein Truthahn! Als hätte Kolja nicht bei ebendiesem Papa im Schreibtisch, dessen unverschlossenes Schubfach er herauszog, teils aus Langeweile, teils weil er naseweis war wie alle kleinen Jungen, als hätte er dort nicht zufällig eine Riesenkollektion von Bildern entdeckt, auf denen ebendas dargestellt war, was Kommis die Krönung der Liebe und mondäne Blödiane überirdische Leidenschaft nennen.
Und hatte er nicht auch gesehen, wie jedesmal vor einem Besuch des wohlriechenden Pawel Eduardowitsch mit den gestärkten Hemdkragen, so eines Taugenichts aus irgendeiner Botschaft, mit dem Mama, in Analogie zu den in Petersburg modernen Spaziergängen zur Strelka, zum Dnepr fuhr, um den Sonnenuntergang jenseits des Flusses, im Gouvernement Tschernigow, zu bewundern – hatte er etwa nicht gesehen, wie dann Mamas Busen wogte und ihre Wangen unterm Puder sich röteten, hatte er in diesen Augenblicken nicht eine Menge Neues und Absonderliches entdeckt, auch wohl ihre Stimme gehört, eine ganz fremde Stimme, wie von einer Schauspielerin, nervös abgehackt und böse gegenüber Familienmitgliedern und Dienstpersonal und dann auf einmal samtweich, sanft wie eine sonnenbeschienene grüne Wiese, sobald Pawel Eduardowitsch kam. Ach, wenn wir klugen, erfahrenen Leute nur wüßten, wieviel und sogar allzuviel die kleinen Jungen und Mädchen, die um uns sind, wissen, von denen wir zu sagen pflegen: »Ach, wozu Rücksicht nehmen auf Wolodja (oder Petja oder Katja …)? Die sind doch noch klein. Die haben keine Ahnung!«
Ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen war für Gladyschew die Geschichte seines älteren Bruders, der, soeben aus der Militärschule entlassen und in ein angesehenes Grenadierregiment aufgenommen, während des Urlaubs bei der Familie wohnte, wo er zwei Zimmer innehatte, bis er ausfliegen konnte. Seinerzeit diente bei ihnen das Stubenmädchen Njuscha, das manchmal scherzhaft Señorita Anita genannt wurde, ein schönes, schwarzhaariges junges Mädchen, das man, wäre es anders gekleidet gewesen, seinem Äußeren nach etwa für eine Schauspielerin, eine reinblütige Prinzessin oder eine Politikerin hätte halten können. Koljas Mutter protegierte es, daß Koljas Bruder diesem Mädchen halb im Scherz, halb ernsthaft den Hof machte. Natürlich ging es ihr als Mutter dabei nur um eines: Wenn ihr Borenka schon zu Fall kommen sollte, dann sollte er seine Reinheit, seine Unschuld, sein erstes physisches Begehren wenigstens nicht an eine Prostituierte wegschenken, nicht an eine Dirne oder eine, die nur auf Abenteuer aus war, sondern an ein reines Mädchen. Natürlich ließ sie sich nur von echtem, uneigennützigem und unbesonnenem Muttergefühl leiten. Kolja befand sich damals in einer Phase, wo er für Llanos,
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