Das sündige Viertel
es – die Krankheit. Sie hat es Ihnen gesagt.«
»Ja … ja … Ich erinnere mich … Aber sich zu erhängen! Wie schrecklich! Ich riet ihr doch damals, sich in Behandlung zu begeben. Die Medizin vollbringt heutzutage Wunder. Ich kenne selbst einige Leute, die ganz und gar … nun ja, ganz und gar auskuriert wurden. Das wissen alle in der Öffentlichkeit und akzeptieren sie … Ach, die Ärmste, die Ärmste!«
»Und nun bin ich zu Ihnen gekommen, Jelena Viktorowna. Ich hätte nicht gewagt, Sie zu inkommodieren, aber ich fühle mich wie im Urwald und habe niemanden, an den ich mich wenden kann. Sie waren damals so gütig, so rührend aufmerksam, so freundlich zu uns … Ich brauche nur Ihren Rat und vielleicht ein wenig Ihren Einfluß, Ihre Protektion …«
»Aber bitte sehr, meine Liebe! Ich tue alles, was ich kann … Ach, mein armer Kopf! Und nun noch diese schreckliche Nachricht … Sagen Sie, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Offen gestanden, ich weiß es selbst noch nicht«, antwortete Tamara. »Sehen Sie, sie ist in die Anatomie überführt worden. Doch zuerst mußte das Protokoll aufgesetzt werden, dann der Weg, und bei der Aufnahme ist sicher auch noch Zeit verstrichen – kurzum, ich glaube, man hat sie noch nicht geöffnet … Ich möchte, wenn es irgend möglich ist, daß man sie nicht anrührt. Heute ist Sonntag, vielleicht wird es auf morgen verschoben, und inzwischen könnte ich etwas für sie tun …«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen, meine Liebe … Doch warten Sie! Kenne ich nicht jemanden von den Professoren, jemanden aus Medizinerkreisen? … Warten Sie – ich sehe dann gleich in meinen Notizbüchern nach. Vielleicht gelingt es uns, etwas zu unternehmen.«
»Außerdem«, fuhr Tamara fort, »möchte ich sie beerdigen lassen. Auf meine Rechnung. Ich hatte sie von Herzen gern, als sie noch lebte.«
»Mit Vergnügen unterstütze ich Sie dabei materiell …«
»Nein, nein! Tausend Dank! Das tue ich alles allein. Ich würde mich nicht genieren, an Ihr gütiges Herz zu appellieren, doch das ist … verstehen Sie mich bitte … das ist eine Art Gelübde, das der Mensch vor sich selbst und vor dem Andenken des Freundes ablegt. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, wie wir ihr ein christliches Begräbnis ausrichten können. Sie war, glaube ich, ungläubig oder doch sehr schwach im Glauben. Und auch ich bekreuzige mich ja nur manchmal zufällig. Aber ich möchte nicht, daß sie eingescharrt wird wie ein Hund, irgendwo hinter dem Friedhofszaun, stillschweigend, ohne Worte, ohne Gesang … Ich weiß nicht, ob es erlaubt ist, sie zu bestatten, wie es sich gehört – mit Sängern und mit Popen. Darum bitte ich Sie um einen Rat. Oder vielleicht können Sie mich an irgend jemanden verweisen?«
Jetzt erwachte allmählich das Interesse der Künstlerin, sie vergaß schon ihre Müdigkeit, ihre Migräne und das Gehabe einer schwindsüchtigen Heldin, die im vierten Akt stirbt. Schon sah sie sich in der Rolle der Fürsprecherin, als wunderbare Gestalt eines Genius, der einem gefallenen Mädchen Gnade erweist. Das ist originell, extravagant und zugleich so theatralisch rührend! Wie viele ihrer Gefährten, so ließ auch die Rowinskaja keinen Tag vergehen, und wäre es möglich gewesen, hätte sie keine Stunde verstreichen lassen, ohne sich aus der Menge hervorzutun, ohne von sich reden zu machen. Heute nahm sie an einer pseudopatriotischen Manifestation teil, morgen rezitierte sie zugunsten verbannter Revolutionäre aufrüttelnde Verse voller Feuer und Rachsucht. Bei Volksfesten und auf Reitplätzen verkaufte sie gern Blumen, bei großen Bällen Champagner. Sie dachte sich schlagfertige Repliken aus, die bereits am nächsten Tag von der ganzen Stadt aufgegriffen wurden. Sie wünschte, daß die Menge immer und überall nur auf sie schaute, ihren Namen wiederholte und ihre grünen ägyptischen Augen, ihren wilden sinnlichen Mund, ihre Smaragde an den schlanken nervösen Händen liebte.
»Ich kann das alles jetzt nicht richtig bedenken«, sagte sie nach einer Pause. »Doch wenn der Mensch etwas ganz stark will, erreicht er es auch, und ich will jetzt um jeden Preis Ihren Wunsch erfüllen. Warten Sie, warten Sie! Ich glaube, mir kommt ein großartiger Einfall … Damals, an jenem Abend, waren doch, wenn ich nicht irre, außer mir und der Baronesse noch zwei Herren …«
»Ich kenne sie nicht. Einer von ihnen hat das Chambre séparée später als Sie alle verlassen. Er küßte mir die Hand und sagte,
Weitere Kostenlose Bücher