Das sündige Viertel
wenn ich ihn einmal brauchte, stünde er mir stets zu Diensten, und er gab mir seine Visitenkarte, bat mich aber, sie keinem Außenstehenden zu zeigen … Später habe ich das alles mehr oder weniger wieder vergessen. Ich bin nie auf die Idee gekommen, mich zu erkundigen, wer dieser Mann ist, und gestern habe ich die Karte gesucht und konnte sie nicht finden.«
»Gestatten Sie, gestatten Sie! Mir ist es eingefallen!« rief die Künstlerin plötzlich lebhaft. »Ja!« rief sie aus, sich rasch von der Liege erhebend, »das war Rjasanow … Ja, ja, ja … Der Rechtsanwalt Erast Andrejewitsch Rjasanow. Gleich regeln wir alles. Ein wunderbarer Gedanke!«
Sie wandte sich zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Telefonapparat stand, und rief an: »Fräulein, bitte die Dreizehnfünfundachtzig … Danke … Hallo! Geben Sie mir bitte Erast Andrejewitsch … Die Künstlerin Rowinskaja … Danke … Hallo! Sind Sie es, Erast Andrejewitsch? Gut, gut, aber jetzt geht es nicht um Handküßchen. Haben Sie Zeit? … Lassen Sie die Torheiten! Die Sache ist ernst. Könnten Sie nicht auf ein Viertelstündchen zu mir kommen? … Nein, nein … Ja … Nur als gütigen und klugen Menschen. Machen Sie sich nicht schlechter, als Sie sind … Na fabelhaft! … Ich bin nicht besonders gekleidet, aber ich habe eine Rechtfertigung – schreckliche Kopfschmerzen … Nein – eine Dame, ein junges Mädchen … Sie werden schon sehen, kommen Sie nur schnell … Danke! Auf Wiedersehen!«
»Er kommt sofort«, sagte die Rowinskaja, während sie den Hörer auflegte. »Er ist ein lieber und sehr kluger Mensch. Er kann alles erreichen, sogar das beinahe Menschenunmögliche … Und unterdessen … Verzeihung, wie ist Ihr Name?«
Tamara wurde verlegen, doch dann lächelte sie über sich selbst: »Ach, machen Sie sich keine Umstände, Jelena Viktorowna. Mon nom deguerre [20] ist Tamara, aber eigentlich heiße ich Anastassija Nikolajewna. Mir ist es gleich, nennen Sie mich ruhig Tamara. Das bin ich mehr gewohnt.«
»Tamara! Wie hübsch das klingt! Also, Mademoiselle Tamara, würden Sie vielleicht mit mir frühstücken? Mag sein, auch Rjasanow schließt sich an …«
»Verzeihung, ich habe zuwenig Zeit.«
»Das ist sehr schade! Ich hoffe, ein andermal … Aber vielleicht rauchen Sie?« Sie reichte ihr ein goldenes Zigarettenetui, verziert mit dem großen Buchstaben J aus den gleichen Smaragden, die sie so liebte.
Sehr bald kam Rjasanow.
Tamara, die ihn an jenem Abend nicht genau angesehen hatte, war von seinem Äußeren überrascht. Hochgewachsen, von beinahe athletischem Körperbau, mit breiter Beethoven-Stirn, die von einer schwarzen, leicht angegrauten wilden Künstlermähne umrahmt war, mit dem großen sinnlichen Mund eines leidenschaftlichen Redners, mit klaren, ausdrucksvollen, klugen, spöttischen Augen, bot er einen Anblick, der unter Tausenden auffällt – den Anblick eines Seelenbezwingers und Herzensbrechers, sehr ehrgeizig und noch nicht vom Leben übersättigt, noch feurig in der Liebe und nie vor einer schönen Torheit zurückschreckend … Wenn das Schicksal mich nicht so grausam gebrochen hätte, dachte Tamara, während sie mit Vergnügen seine Bewegungen verfolgte: das wäre der Mann, dem ich mein Leben zu Füßen legen würde, ohne zu zögern, mit Genuß, lächelnd, wie man dem Geliebten eine abgerissene Rose hinwirft …
Rjasanow küßte der Rowinskaja die Hand, dann begrüßte er mit ungezwungener Schlichtheit Tamara und sagte: »Wir kennen uns schon von jenem schlimmen Abend her, als Sie uns alle mit Ihren Französischkenntnissen überraschten und als Sie zu uns sprachen. Was Sie sprachen, war – unter uns gesagt – paradox, aber wie es gesagt war! Bis heute höre ich den Ton Ihrer Stimme, so feurig und ausdrucksvoll! … Nun denn, Jelena Viktorowna«, wandte er sich wieder an die Rowinskaja, während er auf einem niedrigen Polsterhocker Platz nahm, »womit kann ich Ihnen nützlich sein? Verfügen Sie über mich.«
Die Rowinskaja führte abermals mit erschöpfter Miene ihre Fingerspitzen an die Schläfen.
»Ach ja, ich bin ganz durcheinander, mein teurer Rjasanow«, sagte sie und ließ den Glanz ihrer schönen Augen erlöschen. »Und dann noch mein unglücklicher Kopf … Geben Sie mir doch bitte von dem Tisch dort das Pyramidon … Mademoiselle Tamara mag Ihnen alles erzählen. Ich kann nicht … Es ist so furchtbar!«
Knapp und exakt berichtete Tamara Rjasanow die ganze traurige Geschichte von Shenkas Tod, sie erwähnte auch
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