Das sündige Viertel
die, wie Tamara schon vorher in Erfahrung gebracht hatte, im vornehmsten Hotel der Stadt wohnte, im »Europa«, wo sie eine ganze Zimmerflucht innehatte.
Die Sängerin zu sprechen war gar nicht so leicht: Der Portier unten sagte, Jelena Viktorowna sei wohl gar nicht anwesend, und die Zofe, die auf Tamaras Klopfen herauskam, teilte mit, die gnädige Frau habe Kopfschmerzen und empfange niemanden. Wieder mußte Tamara einen Zettel schreiben.
»Ich komme zu Ihnen von jener, die seinerzeit in dem Haus, welches man nicht laut beim Namen nennt, vor Ihnen kniete und weinte, nachdem Sie die Romanze von Dargomyshski gesungen hatten. Damals haben Sie sie so wunderbar getröstet. Erinnern Sie sich? Seien Sie unbesorgt – sie braucht jetzt von niemandem mehr Hilfe: sie ist gestern gestorben. Jedoch Sie können zu ihrem Gedenken eine sehr ernste Sache tun, die Sie fast gar keine Mühe kostet. Ich bin übrigens die Person, die sich erlaubte, der Baronesse T., die damals in Ihrer Begleitung war, einige bittere Wahrheiten zu sagen, was ich bis heute bereue und zu entschuldigen bitte.«
»Übergeben Sie das«, befahl sie der Zofe.
Diese kam nach zwei Minuten zurück.
»Die gnädige Frau läßt bitten. Es tut ihr sehr leid, daß sie unpäßlich ist und Sie nicht korrekt gekleidet empfangen kann.«
Sie führte Tamara, öffnete ihr die Tür und schloß sie leise wieder.
Die berühmte Künstlerin lag auf einer breiten Couch, über die ein herrlicher turkmenischer Teppich gebreitet war und auf der viele Seidenkissen und weiche Nackenrollen lagen. Ihre Beine waren in einen weichen silbrigen Pelz gehüllt. Die Finger zierten wie üblich eine Menge Ringe mit Smaragden, deren tiefes, zartes Grün die Blicke anzog.
Die Künstlerin hatte heute einen ihrer schlechten, »schwarzen« Tage. Gestern früh hatte es Ärger mit der Direktion gegeben, und abends hatte das Publikum sie nicht so begeistert aufgenommen, wie sie es wünschte, oder vielleicht schien es ihr auch nur so, und heute in der Presse hatte ein Esel von Rezensent, der von Kunst soviel verstand wie ein Ochse von Astronomie, in einem großen Artikel ihre Rivalin Titanowa gelobt. Nun redete Jelena Viktorowna sich ein, sie habe Kopfschmerzen sowie ein nervöses Ticken in den Schläfen und ihr Herz wolle gleich sonstwohin fallen.
»Guten Tag, meine Teure«, sagte sie ein wenig näselnd, mit schwacher, farbloser Stimme und mit Pausen, wie auf der Bühne die Heldinnen sprechen, wenn sie vor Liebe oder an Schwindsucht sterben. »Nehmen Sie hier Platz … Ich freue mich, Sie zu sehen … Nur seien Sie mir nicht gram – ich sterbe fast vor Migräne und an meinem unglücklichen Herzen. Verzeihen Sie, daß mir das Sprechen schwerfällt. Ich habe wohl zuviel gesungen und meine Stimme überanstrengt …«
Natürlich erinnerte sich die Rowinskaja an die sinnlose Eskapade jenes Abends und auch an Tamaras originelles, nicht so leicht zu vergessendes Gesicht, doch jetzt, bei schlechter Laune und beim trüben, prosaischen Licht des Herbsttages, schien ihr dieses Abenteuer übertrieben, unnötig, gekünstelt und bitter beschämend. Dennoch war sie gleichermaßen ehrlich, sowohl an jenem schlimmen, grauenerregenden Abend, da sie mit der Macht ihres Talents die stolze Shenka vor sich auf die Knie zwang, als auch jetzt, da sie mit Trägheit, Müdigkeit und der Herablassung eines Künstlers an all das zurückdachte. Wie viele gute Schauspieler, so spielte auch sie stets eine Rolle, war nie ganz sie selbst, betrachtete ihre Worte, Bewegungen, Handlungen gleichsam von außen, mit den Augen und Gefühlen eines Zuschauers.
Lässig hob sie ihre schlanke, schmale, schöne Hand vom Kissen und legte sie an die Stirn, und die geheimnisvollen Smaragde bewegten sich, als wären sie lebendig, und funkelten in tiefem, warmem Glanz.
»Ich las soeben in Ihrem Briefchen, daß diese arme … pardon, der Name ist mir entfallen …«
»Shenja.«
»Ja, ja, danke! Jetzt weiß ich es wieder. Sie ist gestorben? Woran denn?«
»Sie hat sich erhängt … gestern früh, während der ärztlichen Untersuchung.«
Die Augen der Künstlerin, die so blaß, geradezu farblos gewesen waren, weiteten sich plötzlich und belebten sich wie durch ein Wunder, sie würden grün und glänzend wie die Smaragde, und in ihnen spiegelte sich Neugier, Schrecken und Abscheu.
»Oh, mein Gott! Sie war so lieb, so eigenwillig und hübsch und feurig! Ach, die Unglückliche, die Unglückliche! Und was war der Grund dafür?«
»Sie wissen
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