Das sündige Viertel
die Visitenkarte, die der Advokat ihr überlassen hatte, und daß sie diese Karte sorgsam gehütet habe, und beiläufig erinnerte sie an sein Versprechen, ihr notfalls zu helfen.
»Gewiß, gewiß«, rief Rjasanow aus, als sie geendet hatte, und er begann sofort, mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er sich, wie es seine Art war, die Künstlermähne raufte und sie nach hinten warf. »Was Sie vorhaben, ist eine große, von Herzen kommende Freundestat! Das ist gut! Das ist sehr gut! Ich bin der Ihre … Sie sagen – eine Bestattungserlaubnis … Hm! Geb's Gott, daß mir mein Gedächtnis hilft!«
Er rieb sich die Stirn.
»Hm … hm … Wenn ich nicht irre – Nomokanon, Regel hundertsiebzig … Hundertund … hundertachtundsiebzig … Gestatten Sie, ich glaube, ich weiß sie auswendig … Moment! Ja, so! ›So ein Mensch selber Hand an sich leget, soll er bekommen kein christlich Begräbnis, weder Trauergesang noch Gebet, außer im Falle, er war nicht bei Sinnen‹ … Hm. Nachzulesen beim heiligen Timofej Alexandrijski … Folglich, mein liebes Fräulein, müßte als erstes … Sie sagen, aus der Schlinge befreit wurde sie von Ihrem Arzt, das heißt vom städtischen Arzt … Sein Name?«
»Klimenko.«
»Ich glaube, mit dem hatte ich schon zu tun … Gut! Und wer ist bei Ihnen Revieraufseher?«
»Körbesch.«
»Aha, den kenne ich, so ein stämmiger Kerl mit rotem Fächerbart? Ja?«
»Ja, das ist er.«
»Den kenne ich ausgezeichnet! Auf den wartet schon lange das Zuchthaus! Wohl zehnmal ist er mir in die Finger geraten und konnte sich immer wieder rauswinden, der Schuft. Aalglatt … Dem wird man etwas zustecken müssen. Tja … Und dann die Sache mit der Anatomie … Wann wollen Sie sie bestatten lassen?«
»Ich weiß wirklich nicht … So schnell wie möglich. Wenn es geht, heute noch.«
»Hm … Heute … Das kann ich nicht versprechen, das schaffen wir kaum … Aber hier ist mein Notizbuch. Hier, auf diese Seite, wo meine Bekannten mit Anfangsbuchstaben T stehen, da schreiben Sie bitte ein: Tamara, und Ihre Adresse. In etwa zwei Stunden gebe ich Ihnen Bescheid. Ist Ihnen das recht? Aber ich wiederhole noch einmal, Sie werden das Begräbnis sicherlich auf morgen verschieben müssen … Und noch etwas – verzeihen Sie meine Taktlosigkeit –: Vielleicht brauchen Sie Geld?«
»Nein, danke!« lehnte Tamara ab. »Ich habe Geld. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme! Nun muß ich gehen. Ich danke Ihnen von Herzen, Jelena Viktorowna!«
»Also in zwei Stunden«, wiederholte Rjasanow, während er sie zur Tür begleitete.
Tamara fuhr nicht gleich zurück ins Bordell. Unterwegs kehrte sie in einer kleinen Kaffeestube in der Katholischen Straße ein. Dort erwartete sie Senka Woksal – ein munterer Bursche mit dem Aussehen eines hübschen Zigeuners, nicht schwarz-, sondern blauhaarig, schwarzäugig mit gelblichen Augäpfeln, in seinem Gewerbe entschlußfreudig und kühn, der Stolz aller Diebe der Stadt, eine große Berühmtheit in ihrem Kreis, erfinderisch als Inspirator und Anführer.
Er reichte ihr die Hand, ohne aufzustehen. Doch daran, wie behutsam und zugleich energisch er sie auf den Platz zwang, war eine große, gutmütige Zärtlichkeit zu erkennen.
»Grüß dich, Tamarka! Hab dich lange nicht gesehen, hatte schon Sehnsucht … Möchtest du Kaffee?«
»Nein! Ich muß was mit dir besprechen. Morgen beerdigen wir Shenka. Sie hat sich erhängt.«
»Ja, ich hab's in der Zeitung gelesen«, murmelte Senka verächtlich. »Mir egal!«
»Besorg mir sofort fünfzig Rubel.«
»Tamarotschka, mein Herz – ich hab nicht eine Kopeke!«
»Ich sag dir – beschaff sie!« sagte Tamara im Befehlston, aber nicht ärgerlich.
»Ach, du mein Gott! Dein Geld hab ich nicht angerührt, wie versprochen, aber heute ist doch Sonntag. Die Sparkassen sind geschlossen.«
»Na und? Dann verpfände das Sparbuch! Oder mach, was du willst!«
»Wozu brauchst du's denn, mein Liebes?«
»Kann dir's nicht egal sein, du Dummer? Fürs Begräbnis.«
»Ach! Na, also gut!« seufzte Senka. »Und am liebsten würde ich dir's heute abend selber bringen. Ja, Tamarotschka? Du fehlst mir an allen Ecken und Enden! Ich würde dich wieder mal so richtig küssen, Liebes, du dürftest kein Auge zutun … Kann ich kommen?«
»Nein, nein! Tu, worum ich dich bitte, Senetschka! Gib nach! Du darfst nicht kommen – ich bin jetzt Verwalterin.«
»Na so was!« rief Senka erstaunt und pfiff sogar durch die Zähne.
»Ja. Und deshalb komm
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